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Ortschaftenverzeichnisse als hervorragende lokalgeschichtliche Quelle

Ortschaftenverzeichnisse gehören zu den bedeutendsten orts- und sozialgeschichtlichen Quellen. Sie wurden von 1877 bis 1991 zunächst vom Königlich Bayerischen Statistischen Bureau, ab 1920 vom Bayerischen Statistischen Landesamt herausgegeben. Sie enthalten nicht nur Daten zu den einzelnen Gemeinden, sondern auch zu deren Ortsteilen, also den einzelnen Dörfern, Weilern und Einöden. Alle diese Ortschaftenverzeichnisse sind inzwischen online nutzbar.

Beispiel 

Volkszählung 1900 (Ortschaftenverzeichnis 1904)

Abkürzungen

Gem. = Gemeinde, Ldg. = Landgemeinde, Pfd. = Pfarrdorf, D. = Dorf, E. = Einöde, W. = Weiler

Einw. = Einwohner, Wgb. = Wohngebäude, ha = Hektar

Pf. = Pfarrei, K. = Katholiken,  k. = katholisch, Pr. = Protestanten, pr. = protestantisch, Dek. = Dekanat

P. = Pferde, Rv. = Rindvieh, Schw. = Schweine, Sch. = Schafe, Z = Ziegen

Ausführliche Abkürzungsverzeichnisse befinden sich am Anfang des jeweiligen Bandes.

Bezeichnungen

Die Benutzung wird vereinfacht, wenn man sich mit folgenden Informationen vertraut macht.

Bezirksämter (seit 1862) waren die unteren staatlichen Verwaltungseinheiten, sie wurden 1939 in „Landkreise“ umbenannt.

Kreise (seit 1808) waren die regionalen Verwaltungseinheiten, sie wurden 1939 in Regierungsbezirke umbenannt.

Kreisunmittelbare (auch unmittelbare) Städte waren größere oder bedeutendere Städte, die direkt dem „Kreis“ unterstanden und nicht einem Bezirksamt (für unseren Landkreis nur die Stadt Neuburg).

Kreisfreie Städte: Nach der Umbenennung der Bezirksämter in Landkreise Städte, die nicht direkt dem Landkreis untergeordnet („kreisfrei“) waren, sondern dem Regierungsbezirk.  Für unseren Landkreis nur die Stadt Neuburg, die von 1940 bis 1948 nicht kreisfrei war und seit 1972 nicht mehr ist.

 

Kreisunmittelbare bzw. kreisfreie Städte werden in den Bänden unter eigenem Gliederungspunkt aufgeführt.

 

Zugehörigkeit zu Regierungsbezirken

Das Bezirksamt bzw. der Landkreis Neuburg gehörte bis 1972 zum Kreis bzw. Regierungsbezirk Schwaben. Das Bezirksamt bzw. der Landkreis Schrobenhausen gehörte durchgehend zu Oberbayern. Seit 1972 gehört der Landkreis Neuburg-Schrobenhausen zu Oberbayern.

 

Bayernweite Daten

Im ersten Teil finden wir jeweils bayernweite statistische Überblicke, eine Übersicht der Hof- und Staatsverwaltung und der Ministerien, dabei auch eine Übersicht über die Distriktsgemeinden, die Organisation des Schulwesens, über die staatlichen Behörden wie Amtsgerichte, Rent- bzw. Finanzämter, Vermessungsämter, die Gliederung der Bayerischen Armee (vor 1918) – und für die Recherche wichtig: auch die territorialen Änderungen der einzelnen Bezirksämter bzw. Landkreise. Außerdem finden sich in den Ortsverzeichnissen ab 1928 Karten zur Verwaltungsgliederung Bayerns.

 

Lokale Informationen

Das findet man zum Beispiel  in den Ortschaftenverzeichnissen (nicht alle genannten Daten wurden durchgehend erhoben):

  • Gemeinde mit allen Ortsteilen (Dörfer, Weiler, Einöden)
  • Gebietsgröße
  • Einwohnerzahlen (auch Konfessionen)
  • Zahl der Gebäude
  • Viehstand: Pferde, Kühe, Schweine, Schafe, Ziegen
  • Zugehörigkeit zu Pfarreien und Schulen
  • Bahnstationen und Postagenturen

 

Ortsregister

Das ausführliche Ortsregister listet alle Orte Bayerns auf und ermöglicht das Auffinden im jeweiligen Band. Es erleichtert auch das Auffinden von unbekannten Orten bzw. Orten ähnlicher oder gleicher Schreibweise.

 

Bände

Die einzelnen Bände der Ortschaften- bzw. Ortsverzeichnisse werden über die Bayerische Landesbibliothek Online zur Verfügung gestellt …. hier

Dort findet sich auch eine ausführliche Darstellung der statistischen Erhebungen und ihrer wissenschaftlichen Bedeutung.

 

Folgende Bände sind erschienen (Datenerhebung, in Klammer Erscheinungsjahr):

1875 (1877), 1883/85 (1888), 1900 (1904),  1925/28 (1928), 1959/52 (1952), 1961(64 (1964), 1970/73 (1973), 1970/78 (1978), 1987/90 (1991).

 

Bedeutung

Die Landesbibliothek Online schreibt über die wissenschaftliche Bedeutung der Ortsverzeichnisse:

„Die amtlichen Ortsverzeichnisse stellen mit ihren umfassenden statistischen Daten eine umfangreiche und zugleich äußerst verlässliche Quelle zur Siedlungs- und Bevölkerungsentwicklung der jüngeren bayerischen Landesgeschichte und der Zeitgeschichte dar.

Darüber hinaus sind die früheren Ortsverzeichnisse bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wegen ihrer detaillierteren und teils umfangreichen Statistiken eine wichtige Quelle für die bayerische Wirtschafts-, Sozial- und Religionsgeschichte.

Schließlich leisten die amtlichen Ortsverzeichnisse als Nachschlagewerke nicht nur für Ortsnamenforscher, sondern auch für jeden an der jüngeren bayerischen Verwaltungs- und Ortsgeschichte Interessierten unverzichtbare Dienste.“

 

 

 

 




Joseph Sattler – Grafiker und Illustrator

Ein Grafiker zwischen Vergessen und Wiederentdeckung?

»Ich sehe für ihn eine Karriere voraus gleich jener von Aubrey Beardsley, dem Illustrator von King Arthur, dessen Genie mit dem seinen verwandt ist. … Es ist merkwürdig festzustellen, daß zwei ähnliche Begabungen gleichzeitig sich entfalten«, schreibt 1895 Friedrich Warnecke, der Begründer des Berliner Ex-libris­Vereins.«1

»Man kann die modernen Exlibris schier in zwei Klassen ordnen: erstens Sattler, und zweitens alles Übrige«, urteilt um die Jahrhundertwende der Kunstkritiker Kühl. 2»Seine 19 Zeichnungen sind von einer unbestreitbaren Originalität geprägt«, anerkennt die gewöhnlich mit Lob nicht gerade großzügig umgehende französische Kunstzeitschrift » L‘Art« nach einer 1893 stattfindenden Ausstellung im »Salon de Paris«, der den damals gerade 26jährigen Künstler mit einer »mention honorable« auszeichnet.3

 

Josef Sattler, Monogramm, Radierung, 11,5 x 9,5 cm, ca. 1924

Josef Sattler, Monogramm, Radierung, 11,5 x 9,5 cm, ca. 1924

Den, von dem hier die Rede ist, dem eine Zukunft wie Beardsley prophezeit wurde, sucht man heute in Konversationslexika und Kunstenzyklopädien vergeblich. Joseph Kaspar Sattler (1867- 1931) ist vergessen. Zu Recht oder zu Unrecht? Hielt das zeitgenössische Urteil einer Betrachtung aus der Distanz nicht stand, oder hatte eine schnellebige Zeit einfach keinen Platz für diesen Außenseiter? War es zu umständlich, eine passende Schublade für ihn zu finden, die ihn uns im Karteitrog der Klassifizierten und Eingeordneten in die Gegenwart hinübergerettet hätte? Diese Fragen können und sollen hier nicht eindeutig beantwortet werden. Vielleicht aber findet sich zu ihrer tiefergehenden Klärung doch einmal ein Kunsthistoriker, der Sattler eine Monographie widmet, oder ein Studierender der Kunstgeschichte, der – Modetrends hinter sich lassend – ihn als Thema seiner Abschlußarbeit für würdig befindet. [Anmerkung 2023: Das ist zwischenzeitlich geschehen] Reiches Material hierzu böte die Sattler­Sammlung der Stadt Schrobenhausen, die seit 1978 im historischen Hartl-Turm an der Wehrmauer untergebracht ist.4 [Anmerkung 2023: Die Schrobenhausener Sattler-Sammlung ist seit Jahren im Depot und der Öffentlichkeit nicht zugänglich]

Wenn auch eine Würdigung des Sattlerschen Œuvres aus heutiger Sicht also noch aussteht, so kann dennoch zweifelsfrei festgestellt werden, daß sich eine Beschäftigung mit diesem »Zeichner, Graphiker, Illustrator und Schriftkünstler«, wie die Vielseitigkeit des Künstlers gerne zusammengefaßt wird, äußerst lohnt. Freilich, im ersten Augenblick scheint es schwer, Zugang zu seinem Werk zu finden. Zu fremd sind dem heutigen Betrachter die vorzugsweise im Mittelalter angesiedelten Themen. Wem schon sind die »Wiedertäufer« ein Begriff? Und eine Prachtausgabe der Nibelungensage, vordergründig auch zur Verherrlichung von Chauvinismus und Imperialismus der Wilhelminischen Ära bestimmt, widerstrebt trotz ihres künstlerischen Wertes erfreulicherweise – noch – häufig demokratischem Selbstverständnis der Gegenwart. Das Faszinierende an Sattlers Arbeiten ist jedoch die ungeheure, elementare Phantasie, nicht selten um eine satirische Note angereichert, die trotz aller Zeitbefangenheit des Künstlers ein waches Auge für zeitlos übergreifende Kritik an »Menschlichem-Allzumenschlichem« offenbar werden läßt.

Aus der Mappe "Die Wiedertäufeer"

Josef Sattler. Tod des Propheten Jan Matthiesen, Lichtdruck, 15 x 15 cm. Aus: „Die Wiedertäufer“ 1895

Sattler und Schrobenhausen – biografischer Zufall ohne Folgen

Von allen Künstlern, die in diesem Buch [Anmerkung 2023: gemeint ist das »Schroenhausener Lese- und Bilderbuch«] behandelt werden, bleibt Sattlers Beziehung zu Schrobenhausen die zufälligste, an ausmachbaren Konsequenzen geringste. Er wurde eben hier geboren, weil sich sein Vater gerade für einige Jahre in der kleinen Stadt niedergelassen hatte, ehe er Attraktiveres fand. Dies zeigt sich auch am kunstgeschichtlichen Selbstverständnis Schrobenhausens. Ehe das Museum eröffnet wurde, das so etwas wie eine lokale »Sattler-Renaissance« brachte, rangierte sein Name an letzter Stelle.

Unternimmt man den Versuch, Sattlers Lebensweg zu skizzieren, so stößt man schnell auf Grenzen. Zwar liegt eine leidlich genügende Anzahl »harter« biographischer Fakten vor, doch lassen diese nur ein grobes Raster entstehen, ein zu grobes, als daß der Mensch Joseph Sattler als Individuum aus Fleisch und Blut sinnlich faßbare Konturen annehmen könnte. 5

Joseph Sattlers Geburtshaus in Schrobemhausen (Foto ca.1920. (Stadtarchiv Schrobenhausen)

Joseph Sattlers Geburtshaus in Schrobemhausen, heute Metzgergasse 3 (Foto ca.1920, Stadtarchiv Schrobenhausen)

Joseph Kaspar Sattler wurde am 26. Juli 1867 in Schrobenhausen geboren. 6 Sein Vater, Joseph Sattler, Glas- und Dekorationsmaler, war wohl Ende 1863 von Donaualtheim nach Schrobenhausen gezogen, erwarb das spätere »Engelhard-Haus« (heute Lenbachstraße 68; 1982 abgerissen) und verheiratete sich 1864 mit der Organistentochter Rosalie Lachner. Joseph Sattler sen. scheint ein Mann der Tat gewesen zu sein. Wie anders ließe es sich erklären, daß der Zugezogene, die Gunst der Stunde nutzend, 1870 Bürgermeister der Stadt wurde und dieses Amt drei Jahre innehatte? Doch bereits 1875 zog die Familie Sattler nach Landshut.

Der kleine »Sepp«, wie man ihn wohl gerufen haben mag, verbrachte also seine ersten acht Lebensjahre in Schrobenhausen. Über diese Zeit ist weiter nichts bekannt. Spekulationen, Franz von Lenbach sei der Taufpate Joseph Kaspar Sattlers gewesen, erwiesen sich als Fehlschlag. So reizvoll es auch für Heimatkundler gewesen wäre, dergestalt eine »künstlerische Begegnung« herzustellen, das Geburts- und Taufregister der Stadtpfarrkirche St. Jakob nennt als Paten nur einen Kaspar Geiger aus Dillingen und eine Anna Fuchs. Kontakte des späteren Künstlers zu seiner Geburtsstadt sind nicht nachgewiesen. Man darf wohl mit Georg August Reischl konform gehen, der schreibt, daß Sattler »nur noch spärliche Erinnerungen an die Stadt seiner Kindheit hatte«. 7 Für sein künstlerisches Werk scheint Schrobenhausen jedenfalls lediglich biographische Marginalie.

Auf dem Weg nach oben

Mit Sattlers weiterem Lebensweg beschäftigte sich Ludwig Hollweck, Leiter der Monacensia-Sammlung in München, auf dessen Arbeit die folgenden Zeilen mehrmals Bezug nehmen. 8
Die folgenden Anmerkungen beziehen sich auf das erstgenannte Typoskript.Der Vater, bei dem Joseph Sattler in Landshut zunächst als Anstreicherlehrling tätig war, brachte für die künstlerischen Neigungen seines Sohnes Verständnis auf. Im Jahre 1882 kam der 15jährige nach München, wo er bei dem Genremaler Heinz Heim ersten Unterricht genoß. Mit seinem Lehrer an der Kunstakademie, Gabriel Hackl, kam der Student nur schwer aus. 1886, im Alter von 19 Jahren, mußte Sattler die Akademie aufgrund finanzieller Probleme verlassen. Er malte nun – der Not gehorchend – alles, was Geld einbrachte, ehe er beim zweiten Anlauf in den heil‘gen Hallen der bildenden Künste dann auf einen Lehrer traf, bei dem e mit großer Freude arbeitete: Nikolaus Gysis. »Der temperamentvolle Grieche regte Sattler zu klarer formaler Durcharbeitung an, er zeigte ihm, daß monumentale Kunst nicht an große Flächen gebunden ist, und er führte ihn auch zur damals noch nicht anerkannten Plakatkunst. 9

1891 wird Sattler zusammen mit seinem elsässischen Malerfreund Leo Hornecker an die im Vorjahr gegründete Kunstgewerbeschule Straßburg berufen. In der Rolle des Lehrenden fühlt er sich jedoch nicht wohl; nach einem Semester gibt er diese Tätigkeit auf und arbeitet fortan freischaffend. Zunächst entstehen graphische Blätter und Folgen in »Anlehnung an die alten Meister … Dürer, Holbein, Cranach, Baldung«. 10 Als früheste gedruckte Arbeit wird in der greifbaren Literatur ein unter dem Titel » Die Quelle« 1892 erschienener Bilderbogen mit zwölf Lichtdrucken genannt. 11Hollweck bezeichnet als erstes größeres Werk die nach seinen Angaben 1893 in 100 numerierten Exemplaren herausgegebene Mappe »Bilder aus der Zeit des Bauernkrieges« (30 Blatt in Lichtdruck).12 Zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes und zur Freude seiner Mäzene zeichnet Sattler nun auch reizvolle Exlibris, die ihn bei Sammlern dieser Buchzeichen innerhalb kurzer Zeit international berühmt machen. 1893 stellt der Künstler Zeichnungen im renommierten »Salon de Paris« aus; er erntet Anerkennung und ermutigende Kritik. Diese Erfolge öffnen ihm 1894 die Tore des Berliner Kunstgewerbemuseums, wo er im November ausstellt. Aufträge für die Kunstzeitschrift »Pan« und der zunehmend enger werdende Kontakt zum Verlag von J. A. Stargardt veranlassen Sattler 1895, nach Berlin zu ziehen. 13 Allein in diesem Jahr erscheinen bei Stargardt seine Werke »Bilder vom internationalen Kunstkrieg«, »Die Wiedertäufer« und »Deutsche Kleinkunst in 42 Bücherzeichen«.

Die Kunstzeitschrift »Pan« existierte nur fünf Jahre von 1895 bis 1900. Mit ihr sind Namen wie Otto Julius Bierbaum, Arnold Böcklin, Thomas Theodor Heine und Max Liebermann verbunden. Als Werbemittel für den ersten Jahrgang 1895/96 kreiert Sattler ein Plakat, »das in allen neuen Werken über den Jugendstil jetzt … als beispielgebend erwähnt wird«, wie Ludwig Hollweck betont, der diese Arbeit so beschreibt: »Drei Blütenfäden einer Lotusblume zeichnen das Wort >Pan < in den Himmel, der gehörnte Naturgott lauert im Hintergrund, Spaten und Rechen sollen zu neuer Arbeit rufen.« 14

 

Plakat für Kunstzeitschrift "Pan" 1895

Joseph Sattler, Plakat für die Kunstzeitschrift „Pan“ 1895 (Stasdtarchiv Schrobenhausen)

»Den bedeutendsten Auftrag seines Lebens« erhält Sattler im Jahre 1898. 15 Er wird in die Berliner Reichsdruckerei berufen, »um ein Monumentalwerk deutscher Buchkunst – ›Die Nibelunge‹ – zu schaffen«. 16 Der Künstler zeichnet die Bilder und Initialen, entwirft die Drucktypen und den Einband, kümmert sich um die Wahl des Papiers. Auf der Pariser Weltausstellung von 1900 erhält die Prachtausgabe einen »Grand Prix«. Einzug hielt diese »Nibelunge« mit ihrem äußerst stolzen Preis von 600 Mark nur in außerordentlich betuchten Bibliotheken.17 Im Jahre 1927 erschien eine einfachere, erschwinglichere Ausgabe für 9,80 Mark.

Josef Sattler, Titelblatt zu "Die Nibelunge", Zeichnung 1900

Josef Sattler, Titelblatt zu „Die Nibelunge“, Zeichnung 1900 (Stadtarchiv Schrobenhausen)

1904 verläßt Sattler Berlin und kehrt nach Straßburg zurück. Seiner Vielseitigkeit entsprechend, entstehen unter anderem graphische Einzelblätter, Exlibris, Buchillustrationen, Buchschmuck, Plakate und Gebrauchsgraphik. Im März 1917 wird Joseph Sattler durch ein Patent des »Kaiserlichen Statthalters in Elsaß-Lothringen« zum Professor ernannt, doch kurz vor dem Einzug der französischen Truppen verläßt der Künstler Straßburg und kehrt nach Bayern zurück.

München und Heinrich Graf

Sattler wohnt nun in München bei seiner Schwester Rosa in der Ainmillerstraße 15/III rechts. Am 19. November 1918 meldet er sich polizeilich an. Obwohl es um ihn nun still geworden ist, arbeitet er weiter. So entstehen bis 1931 noch über 90 Exlibris, die Bücher angesehener Bürger zieren. Einen neuen Impuls beschert Sattler 1924 die Begegnung mit dem heute [Anmerkung: 1982] 84jährigen Kunstkupferdrucker Heinrich Graf. Durch ihn wendet er sich der Radierung zu. Heinrich Graf schreibt darüber im Mai 1934: »Als ich damals den Künstler in seinem bescheidenen Heim besuchte, machte ich ihn auf die Technik der Radierung aufmerksam, besorgte ihm auch einige Kupferplatten und präparierte diese. Nach einigen Tagen brachte er mir eine Platte, auf der sein Monogramm, umgeben von mindestens tausend Köpfen, prangte. Ich hatte mich damals bereit erklärt, seine Platten zu ätzen: als ich aber die mühevolle Arbeit sah, verlor ich fast den Mut. Denn ich wollte es nicht auf mich nehmen, eine solche Arbeit möglicherweise zu verätzen, und bat den Künstler, vorerst mit einer einfacheren Arbeit zu beginnen.

Das tat er, und die Ätzung fiel zu unserer Zufriedenheit aus, was der sofort hergestellte Probedruck bewies. Der Tod, welcher mit der linken Hand schreibt, wurde dann als >erste< Radierung bezeichnet, und wir nannten sie nur die >Zwanzig-Minuten-Ätzung<. Der Künstler fand große Freude an der Technik, und auch ich bekam im Ätzen größere Sicherheit. In der Folge habe ich alle Platten Sattlers selbst geätzt und manches dabei gelernt. Es entstanden nach und nach eine Anzahl von Exlibris, auch Gelegenheitsgraphik, die er teils von seinen Freunden und Gönnern in Auftrag bekam, teils konnte ich ihm aus meinem Kunden- und Freundeskreise mehrere kleine Aufträge vermitteln. Mein Bemühen ging dahin, den Künstler zu einem größeren Werke anzuregen, und so entstand für das Lutherjahr: >Zehn Bilder aus Dr. Martin Luthers Leben<. Diesem sollte das Werk >Helden und Burgen der Reformation< folgen; doch entstanden dafür nur zwei Platten, denn am 12. Mai 1931 nahm der Tod dem Künstler den Griffel aus der nimmermüden Hand und vereitelte alle weiteren Pläne.« 18

So wurden die »Zehn Bilder aus Doctor Martin Luthers Leben«, 1929 als Handpressenkupferdruck von der Graf-Presse hergestellt und verlegt, das letzte größere Werk, das zu Sattlers Lebzeiten erschien. Heinrich Graf blieb dem Künstler jedoch auch nach dessen Tode treu. In drei Teilen verlegte er 1934 posthum Sattler-Radierungen, die in den Jahren der Zusammenarbeit entstanden waren.

 

Josef Sattler, Radierung, 14,5 x 9,5 cm. Aus: Zehn Bilder aus Doctor Martin Luthers Leben, 1929

Josef Sattler, Radierung, 14,5 x 9,5 cm. Aus: Zehn Bilder aus Doctor Martin Luthers Leben, 1929

Die Zäsur

Betrachtet man das Leben Joseph Kaspar Sattlers zusammenfassend, so fällt eine tiefe Zäsur auf: der Erste Weltkrieg und der Zusammenbruch des Kaiserreichs. Vor 1914 der erfolgreiche, geschätzte, anerkannte Künstler, nach 1918 der vergessene, unverstandene, verbitterte Künstler. Mag dieser Gegensatz vielleicht auch etwas zu kraß formuliert sein, die wenigen vorhandenen Anhaltspunkte scheinen auf einen Menschen zu deuten, der sich in der Zeit der Republik nicht mehr zurechtfand. Eine jener tragischen Figuren, wie sie Joseph Roth in seinen Romanen zeichnet? Ein Unschuldiger, oder ein Schuldiger? Zweifelsohne war Sattler ein bürgerlicher Künstler, weder Bohemien noch Avantgardist, sondern einer, der in der Welt des kaiserlichen Deutschlands zuhause war, darin seine Identität hatte. Ebensowenig dürften Zweifel bestehen, daß für Sattler als Kind seiner Zeit Begriffe wie Deutschtum und Vaterland einen Stellenwert besaßen, den heute in dieser Form zu akzeptieren die Geschichte uns unmöglich gemacht haben sollte. Keinesfalls aber repräsentierte Sattler jenen »gefährlich übersteigerten Nationalismus«, 19 der in den Abgrund führte; keinesfalls war er ein platt-fanatischer Propagandist deutschen »Weltmachtstrebens«, eines »Größeren Deutschlands« Rohrbachscher Prägung, mögen auch Arbeiten von ihm in diesem Sinne eingesetzt und interpretiert worden sein. Dies zu konstatieren, genügt ein Blick auf sein Werk. Dafür ist es zu differenziert, zu gut. Als Künstler lebte Sattler in einer Welt, die mit den gesellschaftlich-politischen Verhältnissen des Wilhelminismus zwar nicht unbedingt vollkommen identisch war, mit ihnen aber in Übereinklang stand. Die Republik bot diesen Rückhalt nicht mehr. Die Umwälzung entläßt den eher unpolitisch anmutenden Sattler in eine neue Realität, in der er sich als dreifach Heimatloser wiederfindet: künstlerisch, geistig und geographisch.

»Er lebte sehr zurückgezogen; seine ihm lieb gewordene Wahlheimat, das Elsaß, und vor allem sein Straßburg hat er schweren Herzens verlassen, … und damit verlor er auch den Kreis seiner Freunde und Gönner, die überallhin zerstreut wurden, soweit sie nicht Franzosen wurden. … Einige seiner Straßburger Freunde suchten ihn zur Rückkehr zu bewegen, aber er konnte es nicht über das Herz bringen, sein geliebtes Straßburg in französischen Händen zu wissen. Darunter litt er sehr«, erinnert sich Heinrich Graf. 20 So recht heimisch werden konnte also Sattler in München nicht mehr. »Joseph Sattler war ein sehr liebenswürdiger Mensch!« betont Graf. 21 In das Privatleben des Künstlers gewann der Kupferdrucker jedoch kaum Einblick. »Er soll aber häufig und viel getrunken haben, ist mir erzählt worden.« 22 Graf sieht darin auch eine Erklärung dafür, warum im Spätwerk die Darstellung des Todes eine besondere Rolle spielt.23 Angetrunken soll Sattler nachts in niedergeschlagener Stimmung sich immer wieder mit diesem Motiv beschäftigt haben. Wenn sich auch kein expliziter Hinweis finden läßt, so liegt dennoch der Schluß nahe, daß Sattlers Krankheit und Tod zumindest mittelbar mit seinem Alkoholkonsum zusammenhängen. Von den letzten Lebenstagen ist überliefert: »Graf wollte den Künstler besuchen, … doch die Schwester erklärte, es gehe ihrem Bruder nicht gut. Am nächsten Tag, als Graf wieder kam, war Sattler bereits ins Schwabinger Krankenhaus eingeliefert worden. Auch dort besuchte der Drucker den Künstler und brachte einen neu gefertigten Druck mit. Sattler betrachtete die Arbeit und lobte sie, doch Graf hatte bemerkt, daß der Kranke das Blatt verkehrt gehalten hatte. Im nächsten Moment wollte Sattler mit Graf den Raum verlassen: >Gehn wir in die Werkstatt<, sagte der Kranke und stand auf, suchte seinen Kragen, griff nach dem Kragenknöpferl und langte, ohne dies zu bemerken, in die Zuckerdose. >Da war mir klar, wie schlimm es mit ihm stand<, sagt Graf dazu. Am nächsten Tag wollte er noch einen Besuch im Krankenhaus machen, doch er kam zu spät. Sattler war kurze Zeit vorher gestorben.« 24

 

 

Josef Sattlers "erste Radierung": Der Tod schreibt mit der linken Hand. Entstandem ca. 1924 in München

Josef Sattlers „erste Radierung“: Der Tod schreibt mit der linken Hand. Entstandem ca. 1924 in München

 

Ein »archaisierender« oder ein »sattlernder« Sattler

»Für sein Kunstschaffen und für seine Kunstauffassung hatte man in der Republik wenig Verständnis. Dies tat dem Künstler oft bitter weh. … Die Scheinblüte der Kunst in der Inflationszeit und der schnellebige moderne Zeitgeist waren ihm ein Greuel. Er zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück«, notiert Heinrich Graf. 25

Welcher Art nun war diese Kunstauffassung? Hierzu seien einige zeitgenössische Meinungen zitiert. Als erster Zeuge Sattler selbst: »Es reizte mich vor allem der alte Holzschnitt-Stil, den ich bei alten Darstellungen mit großer Liebe verfolgte. Wenn auch manchmal bei alten Holzschnitten die Zeichnung darunter litt, so ist doch die Behandlung dieser Blätter mit dem Schneide-Messer karakteristisch. Die Verbindung harter Züge mit vorsichtiger Freiheit war mir höchst interessant.« 26 Hier wurzelt eine Kontroverse: Ist Sattler nun ein – handwerklich zwar hervorragender – Nachahmer des Dürerschen oder Holbeinschen Holzschnittstils, oder besitzt er Originalität? Der Berliner Kunstkritiker Daniel Greiner verteidigt im Jahre 1903 den gerade 36jährigen Künstler so: »Es konnte nicht ausbleiben, daß bei solch hingebendem Studium es unser Künstler zu ähnlicher Meisterschaft in der Beherrschung der Holzschnitt-Technik der Alten brachte, wie sein Landsmann Lenbach auf dem Gebiete der Öl-Malerei. Indes bewahrte ihn seine selbständige Art, bei bloßer Nachahmung stehen zu bleiben und in Archaismus unterzugehen. Jene glänzende Epoche deutscher Kunst wurde für ihn zwar Meisterin, aber er wußte diese selbstgesetzte gefährliche Schranke zu überwinden und, den Stil der Alten fortentwickelnd, zu einem eigenen Stil zu gelangen. Schon die am auffallendsten altmeisterlich gezeichneten Bilder aus dem Bauern-Kriege zeigen die keimende Eigenart Sattler’s auch in diesem Punkte. >Ganz die Art der alten Meister!< >Und doch nicht ganz!< So zeichneten die alten Meister nicht. Vor allem fehlt die naive Art der Alten, man sieht schon diesen Blättern an, daß ein moderner Mensch sie gezeichnet hat.« 27 Und Kühl sieht etwa zur gleichen Zeit einen Entwicklungsprozeß: »Gewiß archaisiert Sattler. Gewiß wimmelt es in seiner Phantasie von alten Burgen und Verließen, von Folterwerkzeugen und eisenbeschlagenen Türen, von siegelbehangenen Urkunden und Scharteken.« Doch habe ihn »der unbekannte Geist seines Innern« … » mit der Zeit völlig von allem Altertümeln frei gemacht«. Daß Sattlers Illustrationen zu Heinrich Boos‚ »Geschichte der rheinischen Städtekultur« (Berlin 1897-1901) von Kritikern erneut des Archaisierens geziehen wurden, erscheint Kühl »schlechterdings unbegreiflich«. Er meint: »Wer so urteilt, hat den Stil der Alten vergessen und begeht ein einfaches Quidproquo: er hat sich aus Sattlers früheren Werken eine Vorstellung von der mittelalterlichen Welt angeeignet und nimmt nun das Persönliche in seinem Stil, der sich hier sozusagen ganz abstrakt gibt, ohne weiteres für archaisch. Wie kann man nur angesichts dieser durchsichtigen, frei komponierten, weiträumig gedachten Rundbilder den Eindruck haben, daß der Künstler darin dürert oder holbeint. Keine Spur. Er sattlert in diesem Werk, das ist alles.« 28

Joseph Sattler, Zeichnung/Heliogravur. Aus: Ein moderner Todtentanz 1894

Joseph Sattler, Zeichnung/Heliogravur. Aus: Ein moderner Todtentanz 1894

Daß Sattler in der Welt des Mittelalters zu Hause war, zeigt bereits ein erster flüchtiger Blick auf sein Werk mit hinreichender Deutlichkeit. Greiner stellt fest:» Der Künstler hat etwas von einem Geschichtsforscher in sich. … Auch hierin leistet er Hervorragendes. Es ist wohl kein Künstler so innig vertraut mit den Kultur-Verhältnissen des deutschen Mittelalters und der Renaissance wie der Schöpfer der ‚Bilder aus dem Bauernkrieg‘, der ‚Wiedertäufer’…« 29 Sattlers düstere Weltschau, durch das satirische Element eher betont als abgemildert, kommt hier voll zur Geltung. Er »schildert das Leben von seiner rauhen Seite, den wildtosenden Kampf, den Schrecken und das Entsetzen, die Macht des Todes«. 30 Von den Blättern » Kalktaufe«, »Münsterisch Straßenleben« und »Das Wort ist Fleisch geworden und wohnet in uns« aus den »Wiedertäufern« schwärmt Kühl: »Welche Phantasie hat diese Menschen erschaut, die sich zwischen Himmel und Erde an ein paar Leitern emporarbeiten, und von der heißen Flüssigkeit getroffen, wie Würmer in sich zusammen kriechen! … Die Szene ist hell gehalten, keine kleinste dunkle Partie, die zur Hebung der Lichter dienen könnte, und doch brennt einem das Weiß des Kalkes geradezu in den Augen. Man meint, ihn auf dem eigenen Rücken zu fühlen. Von gleicher Grandiosität ist das dunkler gehaltene Blatt, das die Verhungernden in den Straßen Münsters zeigt, wie sie da herumhocken und -stehen und -liegen, die Armen, aus deren lemurenhaften Gesichtern jeder Lebensausdruck, selbst der Haß geschwunden ist.« Das dritte Bild schließlich >zeigt den vertierten König<, auf vier Tatzen gehend, aber mit menschlichem Kopf, in einer Haltung, die eine leise Erinnerung an den grasfressenden Nebukadnezar wachruft. Doch trägt dieser hier die Bibel im Maul. Unter seinem Mantel, der vorzüglich sein Hinterteil deckt, sieht man das kleine Volk an den Sphinxbrüsten hangen. Der unmittelbare Eindruck ist der einer ekelhaften Blödigkeit, die auch deutlich aus seinen Augen hervorschaut; zugleich aber eine verschwommene und unehrliche Vorstellung von Würde. … gerade in den ernstesten und fürchterlichsten Bildern klingt ein grausiges Lachen durch. Ob dem Zeichner selber einmal unheimlich zu Mute geworden ist in dieser lrrenanstalt?« 31

 

Sattler und die Kleinkunst

Neben den großen Arbeiten mit den vorwiegend mittelalterlichen Themen – Federzeichnungen, Pinselzeichnungen, getuschte Bilder, Holzschnitte und Radierungen, viele von ihnen als Zyklen unter Anwendung des Lichtdrucks, des Kupferdrucks, der Photogravur in Mappen oder in Buchform veröffentlicht – nimmt in Sattlers Werk die sogenannte Kleinkunst einen bedeutenden Platz ein: Buchillustrationen, Buchschmuck (Vignetten, Initialen, Ornamentik mit Streifen, Bändern, Schnitzeln, Spänen, Splittern), Signets und natürlich Exlibris. Greiner und Kühl kommen hier zu ähnlicher Einschätzung. Der eine: »Man weiß nicht, was man an Sattler’s Fantasie mehr bewundern soll: ihre Tiefe oder ihre oft geradezu überraschende Originalität oder ihre eminente Vielseitigkeit. Sie ist immer frisch, lebendigsprudelnd, wie ein unversieglicher Berg-Quell. Ihr Reichtum zeigt sich namentlich in einer Fülle kleiner Zeichnungen, Vignetten, Leisten, Initialen, Signets und Bücher-Zeichen. Immer wieder eine neue, reizvolle Idee, manche, und nicht wenige, sind wahre Kostbarkeiten zeichnender Kleinkunst. Sehr häufig begegnet der menschliche Kopf in immer anderen Variationen … Er kann sich gar nicht genug thun, immer wieder Köpfe zu zeichnen, und bedeckt ganze Blätter mit zahllos scheinenden Köpfen und zwingt ihre Mannigfaltigkeit zum Ornamente.« 34

Joseph Sattler. Die Kalktaufe, Lichtdruck 23 x 30 cm- Aus: Die Wiedertäufer, 1895

Joseph Sattler. Die Kalktaufe, Lichtdruck 23 x 30 cm- Aus: Die Wiedertäufer, 1895

 

Joseph Sattler, Exlibris, Zeichnung/Kunstdruck, 6 x 9 cm. Aus: Deutsche Kleinkunst in 42 Bücherzeichen, 1895

Joseph Sattler, Exlibris, Zeichnung/Kunstdruck, 6 x 9 cm. Aus: „Deutsche Kleinkunst in 42 Bücherzeichen“ 1895

Besondere Anerkennung erwarb sich Sattler bei seinen Zeitgenossen mit seinen Exlibris. Die »Zeitschrift des Ex-libris-Vereins zu Berlin« stellt – besonders in den Jahren 1893 bis 1906 – immer wieder Sattlers neue Buchzeichen vor und bespricht sie meist mit ausgesprochener Euphorie, diese »genialen Kompositionen des jungen Meisters«. 35 »In eleganter Mappe«, für 40 Mark, erscheint 1895 bei J. A. Stargardt »Deutsche Kleinkunst in 42 Bücherzeichen«.36 Noch im gleichen Jahr folgt die englische Ausgabe »Art in Book-Plates. Forty two original Ex-Libris designed by Joseph Sattler«. Exlibris des Künstlers sind zwischen 1898 und 1906 unter anderem in London, Straßburg, Wien, Berlin und München zu sehen. 37 Die Bücherzeichen-Kundschaft Sattlers rekrutiert sich aus Hochadel, Adel und Geldadel, Bürgern und Künstlern. Vertreten sind beispielsweise auch »Ihre Majestät die Kaiserin und Königin Auguste Victoria« und Philipp Graf zu Eulenberg. Buchzeichen wie auch andere Beispiele Sattlerscher Kleinkunst sind nicht selten vom Jugendstil geprägt. Einigen Exlibris ist anzusehen, daß es auch Geschmack und besondere Wünsche des erlauchten Auftraggebers zu berücksichtigen galt. Nicht immer konnte der Künstler so »sattlern«, wie er es wohl gerne gewollt hätte. Derlei Zwängen enthob er sich mitunter durch Exlibris­Zeichnungen, hinter denen kein Besteller stand, die gar nicht den Zweck eines Buchzeichens erfüllen sollten, sondern sich lediglich der Form eines solchen bedienten. Beispiele dieser Art enthält auch die Mappe »Deutsche Kleinkunst in 42 Bücherzeichen«. Über derart Afunktionales freilich rümpften Exlibristen die Nase. Daß Sattlers Exlibris-Skizzen im »Durcheinander« (Berlin 1897) »wirkliche Exlibris« sind, bezeichnet ein Anonymus als »entscheidenden Fortschritt«. 38

Einigkeit herrscht unter den Zeitgenossen, was die in jenen Jahren gerade auflebende »Exlibris-Bewegung« Joseph Sattler verdankt. Er hat bei den Buchzeichen »auf den heraldischen Zopf verzichtet und damit für die dekorative Fassung neuer stofflicher und ornamentaler Einfälle freie Luft geschafft«, stellt Kühl fest. 39 Der Exlibris-Forscher und Sammler Walter von zur Westen schreibt: »Erst Joseph Sattlers Bucheignerzeichen haben die schöne alte Exlibrissitte einer großen Gemeinde von Kunstfreunden nahegebracht und haben Anstoß gegeben, daß die Exlibriszeichnung sich aus einer Domäne heraldischer Künstlerspezialisten zu einem weiten Schaffensgebiet für die Künstler der verschiedensten Richtungen erweitert hat.« 40

Josef Sattler. Exlibris, Zeichnung/Kunstfahrendruck, 15 x 8,5 cm. Aus: "Deutsche Kleinkunst in 42 Bücherzeichen" 1895

Josef Sattler. Exlibris, Zeichnung/Kunstfahrendruck, 15 x 8,5 cm. Aus: „Deutsche Kleinkunst in 42 Bücherzeichen“ 1895

Sattlers Mappen und Bilder

Eine Bibliographie von Sattlers Mappen und in Buchform veröffentlichten Graphik-Zyklen sowie der von ihm illustrierten und geschmückten Bücher fehlt bis heute. Die folgende Zusammenstellung, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, versucht, wenigstens einen kleinen Überblick zu geben. Als Quellen dienten in erster Linie Titelverzeichnisse des Verlages von J. A. Stargardt, Berlin, in den Sattler-Werken »Die Wiedertäufer« und »Bilder vom internationalen Kunstkrieg«, der Katalog der Bayerischen Staatsbibliothek, München, und die in den USA erscheinende Bibliographie »The National Union Catalog«. Eingeklammerte Jahreszahlen weisen darauf hin, daß es sich nicht um eine Erstausgabe handelt. In Anführungszeichen gesetzte Angaben sind wörtlich den genannten Titelverzeichnissen von Stargardt entnommen.

1892
Die Quelle. 12 satyrische Blätter
12 Lichtdrucke in Gross-Folio.
Verlag von J. A. Stargardt, Berlin

1892 oder 1893
Bilder aus der Zeit des Bauernkrieges
30 Blatt in Lichtdruck. Limitierte und numerierte Ausgabe in 100 Exemplaren. (Nach Kühl 1892, nach Hollweck 1893 erschienen, vgl. Anm. 12.)
Verlag von J. A. Stargardt, Berlin

1893
Une cure merveilleuse
Kurzgeschichte, illustriert von Joseph Sattler
ohne Ort

1893–96
zusammen mit Charles SPINDLER: Elsaesser Bilderbogen. Images alsaciennes
1.-3. Jahrgang.
F. X. de Roux & Co., Straßburg

1894
Ein moderner Todtentanz
»13 zum Theil farbige Heliogravuren. Folio. In art-linen-Originaleinband.« Verlag von J. A. Stargardt, Berlin

1894
A Modern Dance of Death
(Englische Ausgabe von Ein moderner Todtentanz.)
H. Grevel & Co., London

1895
Friedrich SARRE: Die Berliner Goldschmiede-Zunft
Mit einem Titelblatt von Joseph Sattler.
Berlin

1895
Deutsche Kleinkunst in 42 Bücherzeichen
Mit einem Vorwort von Friedrich Warnecke
»42 Original-Ex-libris, meist in prächtigem Kunstfarbendruck. Folio. In Originalmappe.«
Verlag von J. A. Stargardt, Berlin

1895
Art in Book-Plates. Forty two original Ex-libris designed by Joseph Sattler. With an introduction on artists, literature and collectors of Ex-libris in England, the United States, Germany and France by Frederick Warnecke
(Englische Ausgabe von Deutsche Kleinkunst in 42 Bücherzeichen.)
H. Grevel & Co., London

1895
Bilder vom internationalen Kunstkrieg. La guerre des peintres. Artists on the war-path
J. A. Stargardt, Berlin

1895
Die Wiedertäufer
Es erschienen folgende Ausgaben:
»1 Originalradierung und 29 Blätter in Lichtdruck und Holzschnittmanier. Folio.
Liebhaber-Ausgabe auf altjapanischem Papier, enthaltend drei Originalradierungen und 27 Blätter in Lichtdruck und Holzschnittmanier. Nur in 100 in der Presse numerierten Exemplaren gedruckt. Grossfolio.«
Verlag von J. A. Stargardt, Berlin

1896
Meine Harmonie
6 Blätter, 10 Tafeln. In Mappe. Verlag von J. A. Stargardt, Berlin

1896
Georg FUCHS (Hrsg.): Das Werk des Malers Heinz Heim
Mit Titelzeichnung und Initialen von Joseph Sattler.
Verlag von J. A. Stargardt, Berlin

1897
Durcheinander. Allerlei Zeichnungen und Skizzen von Ex-libris, Titelblätter, Zierleisten, Vignetten usw. im Laufe der letzten Jahre gefertigt von Joseph Sattler
Verlagsbuchhandlung Stargardt, Berlin

1897-1901
Heinrich BOOS: Geschichte der rheinischen Städtekultur von den Anfängen bis zur Gegenwart mit besonderer Berücksichtigung von Worms
Mit Zeichnungen von Joseph Sattler.
J. A. Stargardt, Berlin

Werbung des Verlages J. A. Stargardt

Werbung des Verlages J. A. Stargardt

1900
REICHSDRUCKEREI (Hrsg.): Die Nibelunge
Gestaltet und illustriert von Joseph Sattler.
Berlin

1904
Die Nibelunge
Text der Hohenems-Münchener Handschrift A des Nibelungenliedes nach der Ausgabe von Karl LACHMANN.
Illustriert von Joseph Sattler.
Stargardt, Berlin

1905
Légendes d‘Alsace, in: Revue Alsacienne Illustrée (hrsg. von Charles SPINDLER), 7. Jahrgang.
Illustrationen von Joseph Sattler. 46 Blätter mit Abbildungen, 15 Tafeln. Strasbourg

(1912)
Ein Moderner Totentanz in 16 Bildern gezeichnet
16 farbige Heliogravuren; 2 Blätter, 16 Tafeln.
Zweite, vermehrte Auflage
Stargardt, Berlin

1917
Ostergruß der Kaiser Wilhelms Universität Straßburg an ihre Studenten im Felde
Zusammengestellt und herausgegeben von der Kriegsstelle der Universität Straßburg durch Joh. FICKER. Den Schmuck des Buches schuf Joseph Sattler.
Straßburger Druckerei und Verlagsanstalt, vorm. R. Schultz & Co., Straßburg

1927
Die Nibelunge
Einfache Volksausgabe nach der Prachtausgabe der Reichsdruckerei aus dem Jahre 1900.
Deutsche Buchgemeinschaft, Berlin

(1929)

Will VESPER: Tristan und lsolde. Parzival. Ein Liebes- und Abenteuerroman
Mit Bildern von Joseph Sattler.
188. Tausend
Die Bücher der Rose
Wilhelm Langewiesche-Brandt. Ebenhausen bei München

1929
Zehn Bilder aus Doctor Martin Luthers Leben
Handpressenkupferdruck in 400 numerierten Exemplaren. 22 Blätter.
Druck und Verlag der Graf-Presse, München

1932
Joseph Sattlers letzte Arbeit
Zwei fertige Platten – Goetz von Berlichingen und Sebastian von Rotenhahn –aus dem geplanten Werk Helden und Burgen nach dem Tode des Meisters herausgegeben von Heinrich GRAF.
Graf-Presse, München

1934
Radierungen. 1. Teil
Mit einem Vorwort von Heinrich GRAF
Gedruckt und verlegt von der Grafpresse-München

Joseph Sattler, Radierung 1929

Joseph Sattler, Radierung 1929

1934
Radierungen. 2. Teil
Mit einem Vorwort von Heinrich GRAF.
Gedruckt und verlegt von der Grafpresse-München

1934
Kaltnadelradierungen. 3. Teil
Mit einem Vorwort von Heinrich GRAF.
Gedruckt und verlegt von der Grafpresse-München

(1936)
Ernst von WILDENBRUCH: Das Hexenlied
Buchschmuck von Joseph Sattler.
13.-15. Tausend
Grote, Berlin

ohne Jahr (vor 1896)
Merkbuch des Ritters Hans von Schweinichen
Mit einem Titelblatt von Joseph Sattler.
ohne Ort

ohne Jahr
Hans Jakob Christoffel von GRIMMELSHAUSEN: Simplicius Simplicissimus
Bilder, Initialen und Vignetten von Joseph Sattler.
ohne Ort

ohne Jahr
Exlibris. Neue Folge
20 ein- und mehrfarbige Handpressen-Kupferdrucke.
0. Wiegand, Leipzig

 

Nachbemerkung

Dieser Text erschien erstmals 1982 im „Schrobenhausener Lese- und Bilderbuch“ unter dem Titel „Joseph Kaspar Sattler. Ansätze zu einer Spurensicherung“. Die damalige Rechtschreibung wurde beibehalten. An wenigen Stellen finden sich Anmerkungen mit dem Stand 2023 in eckigen Klammern. Die Illustrationen wurden um zwei Abbildungen ergänzt. Die Reproduktionen stammen – soweit nicht anders angegeben – aus der Sammlung des Autors.

 




HIAG und PARAXOL im Hagenauer Forst:
eine Buchempfehlung

HIAG und PARAXOL im Hagenauer Forst gehören zu den interessantesten Themen der neueren Schrobenhausener Geschichte. Der Langenmosener Wolfgang Haas hat darüber ein Buch verfasst, das wir jedem geschichtlich Interessierten empfehlen möchten. Zusammen mit dem Autor planen wir auch einen umfangreicheren Beitrag auf unserer Website.

Das geheimnisvolle Werk

Jahrzehnte lang war das Werk im Hagenauer Forst bei Schrobenhausen von Geheimnissen umwittert, viele Gerüchte waren im Umlauf, man wusste aber nichts Genaues. Die Geheimhaltung war strengstens geregelt, handelte es sich doch um den Bau und Betrieb eines Rüstungsunternehmens, errichtet im Zusammenhang mit der gewaltigen Aufrüstung und Kriegsvorbereitung der Nationalsozialisten.

Erstes Licht in die Angelegenheit brachte Kreisheimatpfleger Bernhard Rödig schon in den 1990er Jahren. Wolfgang Haas, der 40 Jahre bei der heute hier ansässigen MBDA und ihren Vorgängerfirmen gearbeitet hat, hat sich die Erforschung der Geschichte dieses Industriestandorts praktisch zu einer zweiten Lebensaufgabe gemacht.

Kurz zusammengefasst

„HIAG“: unter diesem Tarnnamen errichtete der Bauherr der Fabrik – die Abkürzung steht für „Holzverkohlungs-Industrie AG“ – zwischen 1938 und 1942 Fabrikgebäude im Hagenauer Forst, der damals noch gemeindefreies Gebiet war.

„PARAXOL“: Nach der Fertigstellung der Anlagen produzierte der Betrieb unter dem Namen „PARAXOL GmbH“ von 1942 bis 1945 Pentaerythrit, ein weißes, unscheinbares Pulver, ein Sprengstoff-Vorprodukt, das in anderen Firmen zu militärischem Sprengstoff weiterverarbeitet wurde. PARAXOL war ein Teil der Firma Degussa und hatte mehrere Betriebsstätten in Deutschland. Die Degussa,  gegründet 1873 als Deutsche Gold- und Silber-Scheide-Anstalt, spezialisierte sich später auf Industriechemikalien und war wie viele andere Unternehmen fest in die nationalsozialistische Kriegswirtschaft verstrickt.

Nach dem Krieg

Nach dem Einmarsch der Amerikaner wurde die Fabrikanlage demontiert, sie wurde in Südfrankreich in der Nähe von Toulouse wieder aufgebaut und produzierte dort bis zum Jahre 1980. Nach dem Krieg zogen Flüchtlinge in das „Lager Paraxol“ ein, das auch eine eigene Schule hatte. Im Jahr 1958 pachtete die Rüstungsfirma Ludwig Bölkow Apparatebau aus Ottobrunn das Gelände, im Jahr 1968 entstand daraus die Firma Messerschmidt-Bölkow-Blohm (MBB). Heute ist das Industriegebiet Hagenauer Forst Hauptsitz des Rüstungsunternehmens MBDA Deutschland.

Heute finden wir innerhalb und außerhalb des Firmengeländes noch verwitterte Betonruinen. Viele Fabrik- und Bürogebäude haben die Zeit überdauert und werden auch heute noch genutzt.

Ein Buch entsteht

Wolfgang Haas, selbst 40 Jahre bei der MBDA und den Vorläuferfirmen beschäftigt, hat sich schon immer für die Geschichte des geheimnisvollen Werks im Wald interessiert. Viele Jahre hat er alle Informationen zusammengetragen, keine Mühen gescheut, Zeitzeugen befragt, Dutzende Archive besucht und angeschrieben: Firmenarchive und staatliche Archive, nicht zuletzt auch Archive in Frankreich, Polen, England, den Niederlanden und den USA. Sogar in den Archiven des US-Geheimdienstes CIA waren Dokumente zu finden. Schon früh begann er, seine Erkenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren, zum Beispiel in Vorträgen für die VHS Schrobenhausen.

Schließlich hat er seine Erkenntnisse in einem Buch zusammengefasst, das im Selbstverlag erschienen ist. Doch die Neugier nahm kein Ende und so wurden laufend weitere interessante Dokumente aufgespürt. Sie verschwanden nicht im Schreibtisch, sondern wurden immer wieder in die Buchpublikation eingearbeitet, so dass 2023 bereits die 9. Auflage des Werks erscheinen konnte. Nur wenige Publikationen behandeln ein Thema derartig umfassend in allen Aspekten: vom Bau und Betrieb der Anlage über die komplizierten chemischen Prozesse der Herstellung bis zur geschichtlichen Einbindung in die Aufrüstung der Nationalsozialisten.

Beantwortet werden unter vielen anderen folgende Fragen:

  • wie sind HIAG und PARAXOL entstanden
  • was ist Pentaerythrit
  • welche chemischen Verfahren wurden angewendet
  • welche Funktionen hatten die einzelnen Gebäude
  • wie schwierig war die Wasserversorgung aus der Paar
  • wie erfolgten Anlieferung und Versand über den eigenen „Paraxol-Bahnhof“
  • wie viele Zwangsarbeiter wurden beschäftigt
  • warum wurde das Werk nur leicht bombardiert
  • was geschah nach dem Einmarsch der Amerikaner

Wolfgang Haas würdigt im Vorwort auch die Verdienste von Bernhard und Barbara Rödig, ohne deren Forschungen und Unterstützung seine eigene Forschungsarbeit vielleicht nie in Gang gekommen wäre.

Sehr viel Information für nur 13 Euro

Wolfgang Haas: „Was waren HIAG und PARAXOL im Hagenauer Forst Schrobenhausen“. Das Werk ist im Eigenverlag erschienen, umfasst 160 Seiten im Format DIN A 4, enthält über 200 Fotos, Bilder und Originaldokumente und ist durchgehend vierfarbig gedruckt. Derzeit ist die 2023 erschienene 9. Auflage des Buchs erhältlich.

Es kann zum Selbstkostenpreis von 13 Euro nur direkt vom Autor bezogen werden:

Wolfgang Haas
Goethestraße 5
D-86571 Langenmosen
Tel 08433 – 536
Mail: haas.la@neusob.de

 

 




Die vergessene Kiste: Stoffdruckmodeln aus dem alten Unterbräu

Mechtild Hofmann (1944-2020) hat sich lange und intensiv mit den Färbern in Schrobenhausen beschäftigt und dem Stadtarchiv umfangreiche Dokumentationen überlassen. Der folgende Aufsatz wurde übernommen aus dem Band „Schrobenhausener Land, Band 2“ aus dem Jahr 2012.
Bilder: Sammlung Hofmann, Max Direktor

 

Die vergessene Kiste

Ein Schatz von Stoffdruckmodeln aus dem alten Unterbräu

Im Jahr 2003 wurde der alte Unterbräu abgerissen, das Gebäude an der Ecke Lenbachstraße / Kaminkehrergasse. Jahrhunderte lang war dieses Haus mit einer Braugerechtigkeit verbunden. Da die Braugerechtigkeit des Unterbräu zu Beginn des 19. Jahrhunderts an das benachbarte Trappenhaus übergegangen war, bezeichnet man das Gebäude auch als „alten Unterbräu“. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war der alte Unterbräu Werkstätte einer Färberei. Als das Haus abgerissen wurde, wurden eine Reihe von gut erhaltenen Druckmodeln gefunden, die von Maria Joas, der letzten Bewohnerin des Gebäudes, dem Stadtmuseum übergeben wurden. Eine kurze Familien- und Hausgeschichte, die Herstellung von Indigo als beliebter Druckfarbe und ein kurzer Einblick in die Technik des Blaudrucks, die im alten Unterbräu bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts praktiziert wurde, geben einen interessanten Eindruck vom Leben und Arbeiten der Färber in Schrobenhausen.

Ältere Hausgeschichte

Der Unterbräu in der Unteren Stadt ist schon im 15. Jahrhundert als Braustätte bezeugt. Die Hausforscher Wolfgang und Walter Kirchner haben festgestellt, daß der alte Unterbräu an der Ecke Lenbachstraße / Kaminkehrergasse um 1600 aufgestockt wurde für einen farbenprächtigen Tanzboden, der die gesamte Fläche des ersten Stockwerks einnahm und in Rot aus Erdmenning und ockerfarbenem Erdpigment gefasst war. Später wurde eine Trennwand eingezogen. Zur Straßenseite blieb ein stattlicher Festsaal erhalten. Wände und Decke des Saals wurden nach neuem Geschmack mit Kienspanruß vollkommen geschwärzt. Wischfest machte sie ein Bindemittel. Ende des 16. Jahrhunderts waren schwarze Räume 100 Jahre lang in Mode gekommen. Bier wurde im Erdgeschoß gebraut und dort in der Bräustube ausgeschenkt.[1] Die noch robusten Bänke, die an den Wänden entlangliefen, blieben erhalten, als die Bräustube später zur Wohnstube wurde. Die „Färbermarie“ – Maria Joas, geborene Märtl – hat noch um 1910 als Kind ihr Spielzeug in den Truhen dieser Bänke verstaut.

Der Unterbräu (ganz links) um 1880

Der Unterbräu wird Färberei

Im 18. Jahrhundert war südlich des Unterbräu von Pflegsverweser Johann Stephan Trapp ein neues Gebäude errichtet worden, neben dem Pflegschloss und dem Rathaus das repräsentativste nichtkirchliche Gebäude der Stadt. Im Jahr 1803 eröffnete Trapp hier die erste Poststation in Schrobenhausen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Braugerechtigkeit des Unterbräu an das südliche Gebäude gezogen, das dann lange als Trappenbräu, später dann als Unterbräu bezeichnet wurde.[2]

Im Jahr 1843 ist der Wirt und Metzger Jakob Stief Besitzer des Trappenbräu und des danebenliegenden ehemaligen Brau- und Gasthauses. Das letztere verkauft er an den Lodner Joseph Boniberger, der es für seine Tochter Elisabeth erwirbt und an seinen Schwiegersohn Johann Nepomuk Plank übergibt. Johann Plank stammt aus Ellingen und hatte das Färberhandwerk erlernt und erhält im Jahr 1843 in Schrobenhausen eine Konzession als Färber. Im Jahr 1855 erwirbt er eine Webergerechtigkeit und ist danach auch als Weber tätig. Im Jahr 1857 kauft er eine Zwirnmaschine und erhält die Konzession zur Herstellung und zum Verkauf maschinell gezwirnter Garne. Im gleichen Jahr richtet Plank neben der Färberei einen Laden für Färberei- und Textilerzeugnisse ein.[3]

Vinzenz Märtl

Nach einem familiären Schicksalsschlag verkauft Johann Plank sein Anwesen mit Krämerei im ehemaligen Unterbräu-Haus um 5 000 Gulden an den Färber Vinzenz Märtl. Nach Krankheit und Tod seiner Frau hoch verschuldet, muss dieser das Haus verkaufen, doch gelingt es seinen Kindern, das elterliche Anwesen im Jahr 1884 zurückzuerwerben. Im Jahr 1904 gibt Vinzenz Märtl die Färberei auf. Seine Frau Anna Maria Märtl richtet im Färberhaus einen kleinen Kolonialwarenladen ein. Maria Joas, die im Färberhaus im Jahr 1909 geborene und aufgewachsene Enkelin, erinnert sich: „Die Großmutter hatte einfache Stoffe am Meter, Socken, Heringe, Käse, Weihnachtskugeln, Zigarren und Zigaretten, Salatöl, Essig, kugelige Pfefferminzbonbons: weiß mit roten Streifen in Gläsern, Eisbonbons: flache weiße ohne Farbstoff erfrischend., Waschmittel, Seife, Schnupftabak, Kaffee, Petroleum, Margarine, Kerzen, Zucker.“ Vinzenz Märtls Tochter Babette, die bis1909 den Öfele-Bräu bewirtschaftet hatte, führte den Laden bis in die späten Dreißigerjahre weiter.[4]

Als Vinzenz Märtl 1869 das Anwesen samt Färbergerechtigkeit und Zubehör übernommen hatte, gehörten dazu auch  Druckmodeln, die Plank selbst hergestellt hatte. Märtl hat dann den Bestand an Druckmodeln noch erweitert. Als Märtls Enkelin Maria Joas ihr Haus räumte, fanden sich in einer vergessenen Kiste auf dem Dachboden fast fünfzig dieser Druckstöcke und das Musterbuch des Färbers. Im wackligen Puppenwagen und zwischen Gartengeräten lagen weitere Modeln. „Als Kind hab´ ich damit gern im Sand g´spielt. Das hat so schöne Muster geben. Oder man hat sie als Blumentopf-Untersetzer hergenommen.“ Da hatte der Großvater schon nicht mehr gelebt und sein Sohn Vinzenz, der Onkel Marias, war als Färber nach Passau gezogen.[5]

Druckmodel von Vinzenz Märtl

 

Der bekannte Färbermeister Josef Fromholzer aus Ruhmannsfelden hat für das Schrobenhausener Stadtmuseum mit den alten Modeln, die Frau Joas dem Museum überlassen hatte, ein großes Mustertuch bedruckt. Nebenbei verriet er, daß er 1943 bei Vinzenz Märtl junior, den er als Mensch und Fachmann schätzte, in Passau die Gesellenprüfung abgelegt hat. Märtl war Obermeister der Färber- und Chemischreinigungs-Innung Niederbayern-Oberpfalz.

Druckmodel von Vinzenz Märtl

 

Indigo – König der Farben

Den blauen Farbstoff für den Blaudruck lieferten seit dem 17. Jahrhundert vor allem die Blätter des tropischen Indigostrauchs.[6] Der Indigostrauch (Indigofera species) und der heimische, farbstoffärmere Waid (Isatis tinctoria) enthalten den Indigo-Farbstoff in einer farblosen, wasserlöslichen Vorstufe, dem sogenannten Indoxyl oder Indigweiß.Bei der Gärung des zerstoßenen Pflanzenmaterials wird diese Vorstufe unter Zusatz von Soda, Pottasche oder Urin ausgewaschen. Ist die schmutzig aussehende Brühe, die sogenannte Küpe, gefiltert, können Stoffe damit getränkt werden. Das Blau entwickelt sich dann beim Verhängen an der Luft, wenn durch Oxidation das Indigweiß in den unlöslichen Indigo umgewandelt wird.

Abhängig von der Konzentration der Küpe und der gewünschten Tiefe des Farbtons wurden die Arbeitsgänge Küpen – Verhängen im 15-Minuten-Takt wiederholt. Für die Indigo-Produktion – hauptsächlich auf Plantagen in Westindien – ließ man die Küpe in flachen Becken in der Sonne verdunsten. Im Kontakt mit der Luft entstand der Indigo, der sich leuchtend blau am Boden absetzte. Dieser Satz wurde getrocknet, zu Brocken zerstoßen und so in den Handel gebracht. Vor der Verarbeitung mußten die blauen Brocken durch Reduktion wieder in Indigweiß übergeführt werden. Dies geschah früher in der Gärungsküpe durch Versetzen mit Zucker oder stärkehaltigen Produkten, auch Kalk, Urin oder Soda, heute in der Natronlauge-Hydrosulfit-Küpe.

Der Blaudruck

Der Blaudruck entwickelte sich in Europa im späten siebzehnten Jahrhundert.[7] Durch die Ostindische Kompanie kamen blau-weiß gemusterte Stoffe in den Westen, die bald nachgeahmt wurden. So entstand in den Städten das Gewerbe der Blaufärber.In ruhigeren Zeiten haben die Färber Stoffe auf Vorrat bedruckt und damit gehandelt. Oft brachte der Kunde eigenes Leinen mit, an das als Eigentums-Nachweis eine Färbermarke aus Metall mit eingeprägter Nummer gehängt wurde. Die zweite Marke war für die Abholung bestimmt. Anhand des vorliegenden Musterbuchs traf der Auftraggeber seine Wahl für den Druck.

Blaudruck

Druckvorbereitung

Durch Kochen wurde der Stoff gereinigt und für den Druck saugfähig gemacht, meist mit dünnem Kleister leicht gestärkt, geglättet und auf den Drucktisch gespannt.

Modeln 

Wichtigstes Arbeitsgerät der Blaudrucker waren die Modeln oder Druckstöcke. Sie bestanden meist aus Hartholz – vorwiegend Obsthölzer oder Weißbuche. Ab dem neunzehnten Jahrhundert arbeitete man zum Teil mit metallbesetzten Druckstöcken, die feinere Muster ermöglichten. Spitze Metallstifte an den Ecken der Model bohrten sich in den Stoff und erleichterten dem Drucker die exakte Fortsetzung des Musters.

Druckverfahren 

Man unterscheidet in der Blaudruckerei zwei technische Verfahren. Beim Negativdruck (Reservedruck) wird eine farbundurchlässige Masse (Papp) mittels Model auf den Stoff gebracht. Die unterschiedlichen Rezepturen beschrieben Wachs, Harz, Terpentin, Tonerde oder Gummiarabicum vermischt mit Bleiweiß, Kreide, Grünspan, Schmalz oder andere Substanzen. Beim Färben bleibt das aufgedruckte Muster ausgespart; der Papp wird später ausgewaschen. Beim Positivdruck (Direktdruck) wird blaue Farbe mittels Model auf den Stoff gebracht.

Nachbehandlung

Beim Negativdruck muß die wachshaltige Schutzschicht in schwachen schwefelsauren Bädern ausgewaschen und mit klarem Wasser nachgespült werden. Frau Joas, die „Färbermarie“, erinnert sich: „D´Mama hat erzählt, dass der Großvater die Stoffe im Stadtbach g´waschen und am eigenen Arteser-Brunnen im Hof geschwenkt hat.“ In Körben landeten die Stoffbahnen mit einem Aufzug im zweiten Stock, wo sie über kräftige Stangen an der Altana geworfen, trocknen konnten. Im Kellergewölbe stand die Mange. Ein mit Steinen gefüllter Kasten auf dicken Holzrollen wurde über einen Göpel in Bewegung gesetzt und ähnlich einer Mangrolle und einem Mangbrett über die Leinwand bewegt.

Viel Geduld, viel Sorgfalt war gefragt in den vergangenen Tagen und das im Umgang mit giftigen Chemikalien in gesundheitsschädlicher Nässe und bei teils harter körperlicher Arbeit mit der Aussicht auf einen mageren Gewinn.

Blaudruck mit Färbermarke von Vinzenz Märtl

 

[1] Wolfgang und Walter Kirchner: Historische Hausforschungen zum Unterbräu.

[2] Georg August Reischl: Schrobenhausen – sein altes Handwerk, Schrobenhausen 1967, S. 76-78.

[3] Stadtarchiv Schrobenhausen, Ansässigmachungs-, Verehelichungs und Gewerbekonzessionsakten A und A…

[4] Stadtarchiv Schrobenhausen, Sammlung Mechtild Hofmann, Ordner „Unterbräu“. Hier sind auch die Erzählungen von Maria Joas dokumentiert.

[5] Wie Anm. 4.

[6] Matthias Seefelder: Indigo – Kultur, Wissenschaft und Technik, Landsberg 1994

[7] Reinhold Reith: Lexikon des alten Handwerks, München 1990, S. 70-75. – Informationsblätter des fränkischen Freilichtmuseums Bad Windsheim:

Farben, Färben, Drucken. – Josef Fromholzer: Färberei und Handdruckerei. Ruhmannsfelden.

 




Das grüne Oval – der Stadtwall von Schrobenhausen

 

Stimmstock

Ein warmer Sommerabend im August 1847. Schrobenhausen liegt schon im Dunkeln, ein leichter Windhauch bewegt die Blätter der Bäume am westlichen Stadtwall. Da mischen sich Geigentöne in das melodische Rascheln der Blät­ter, Töne, die traurig und schwer und fern klingen. Abschiedstöne. Sie drin­gen aus einem Fenster, hinter dem kein Licht brennt. Der verborgene Geiger ist ein junger Mann von kaum 20 Jahren. Ein junger Künstler, ein Maler und Musiker, von seinem Vater dazu bestimmt, Maurer zu werden. Aber die schwache Gesundheit des Jünglings erspart ihm diese Dissonanz: Er stirbt am 9. Oktober 1847 an einer Lungenentzündung.

Der junge Mann am nächtlichen Stadtwall war Karl August Lenbach, Bruder des späteren »Malerfürsten« Franz von Lenbach. Seit ich diese Schilderung in Georg August Reischls Buch »Lenbach und seine Heimat« gelesen habe, komme ich auf dem Weg über den Stadtwall nicht mehr am Lenbachhaus vor­bei, ohne verklingende Geigentöne zu hören und an den früh verstorbenen Karl August Lenbach zu denken, anstatt, wie es wohl üblicher wäre beim Anblick des Lenbachhauses, an dessen berühmten Bruder. Traurige Klänge dürften aber auf dem Rondo des Stadtwalls eher die Ausnahme sein. Es herr­schen Dur-Tonarten vor. Die Bäume lassen sich piano vernehmen, die Vogel­welt zwitschert pizzicato dazu, das Andante der erwachsenen Passanten wird aufgelockert durch das Vivace der Kinder, denen sich hier Berge und Täler, Wälder und Jagdgründe auftun.

Lorbeerblatt

»Einer der erfreulichsten und beglückendsten Vorzüge Schrobenhausens ist sein Stadtwall.« So leitet die Schrobenhausener Zeitung am 14. Juni 1958 einen ganzseitigen Artikel ein, in dem der damalige Kreisheimatpfleger Georg August Reischl die Geschichte der Schrobenhausener Wehranlage ausbreitet, in großer Sorge um eine schleichende Zerstörung der Stadtmauer und womög­lich auch des Stadtwalls, »in unseren materialistischen und scheinbar so unro­mantischen Zeiten«. Eingedenk des Lokalpatriotismus der Schrobenhausener Bürger skizziert das redaktionelle Vorwort den Stadtwall mit folgenden Wor­ten: »Viele andere Orte beneiden uns darum, jeder Fremde ist entzückt. Auch die Einheimischen aller Altersstufen genießen ihn: Aus ihren Kinderwägen schauen schon die Säuglinge in sein grünes Blätterdach, die Schulkinder lär­men auf ihm, Verliebten ist er Zuflucht bei Mondenschein und Sternengefun­kel, gesetzte Bürger promenieren darauf nach dem sonntäglichen Gottes­dienst und die ganz Alten gar, sie sind die Stammgäste der vielen lustig bunt gestrichenen Bänke.«

Der Stadtwall – Tummelplatz für alle Generationen, geruhsamer Parcours zwischen stummen Baumriesen, Rettungsring vor innerstädtischer Hektik. Diese friedliche Zukunft ist ihm wahrlich nicht in der Wiege gesungen wor­den.

Stachelschale

Im 15. Jahrhundert wurde Schrobenhausen erweitert und mit einer Stadt­mauer gesichert. Dazu gehörte nach der damaligen Wehrtechnik ein innerer und ein äußerer Wassergraben mit einem Erdwall dazwischen. Ein bewaffne­ter Angreifer stand also auf dem Wall wie auf dem Präsentierteller für die hin­ter den Schießscharten lauernden Verteidiger. Da aber der Verteidigungsfall nicht allzuoft eintrat, bekam der Wall beizeiten ein friedlicheres Gesicht: Man bepflanzte ihn. Georg August Reischl weist dies an zwei alten Stadtkammer­rechnungen nach: »( … ) wurden viele Linden und Pirnbäum vom Eschhai ( das ist die alte Bezeichnung für den Stadtflurwächter) eingesetzt und den gan­zen Sommer hindurch von ihm regelmäßig gegossen (. . . ) bekam dafür 28 Pfennig« (1592). »( … ) haben vier Bürger Lindenbäum aus der Hagenau ausgegraben und bei dem Untern Tor wieder eingeimpft; erhielten dafür ver­ehrt 1/2 Gulden« (1595). Vereinzelten Baumbestand auf dem Wall sieht man auch auf dem Fresko von Hans Donauer im Antiquarium der Münchner Resi­denz, das Schrobenhausen im Jahre 1583 zeigt.

Anfang des 19. Jahrhunderts waren Stadtmauer, Gräben und Wall wehrtech­nisch längst wertlos geworden. Der Wall war kahl und von unregelmäßiger Höhe; die Stadtmauer wurde niedergerissen, wenn eine Baumaßnahme beab­sichtigt war. Wie leicht hätte der Ausdehnungsdrang der Stadt nun die gesamte Wehranlage sprengen und einebnen können.

Da erhielt das historische Oval im Jahr 1825 plötzlich Aufwertung und Aner­kennung: Der Stadtwall wurde neu in Form gebracht und bepflanzt. Viel­leicht ist dieser zukunftsträchtigen Tat sogar die Rettung der Wehranlage zu verdanken. Wer hat in letzter Minute diesen Rettungsring angelegt? Wer sind die Schöpfer dieser grünen Wehrmauer gegen die Zerstörung der mittelalterli­chen Umfriedung, die heute der Stolz Schrobenhausens ist?

»Culturwurzeln«

Die »Schrobenhausener Chronik« meldet im Jahr 1850: »Am 15. und 16. April des Jahres 1825 wurde hier der hiesige Wall um die Stadt, welcher durch den hiesigen Unteraufschläger (Steuereinnehmer), Herrn Oberleutenant Hegele, seine dermalige Cultur empfing, mit Bäumen und Gesträuchen besetzt. Obgleich Herr Hegele von der hiesigen Gemeinde 50 fl. Honorar für seine Bemühungen empfing, so gebührt ihm dennoch unser fernerer Dank für diesen Wall, der vorzüglichsten und angenehmsten Zierde unserer Stadt.«

Im Archiv der Stadt befinden sich noch die Abrechnungen Hegeles für die »Erhöhung und Erweiterung des hiesigen Stadtwalles« vom 15. November 1824 bis 4. Mai 1825. Am Tag der Vollendung wurde »den Tagwerkern noch­mal Bier und Brot« bezahlt. Für durchschnittlich 21 Kreuzer pro Tag hatten sie über 400 Arbeitstage am Wall abgeleistet. Hegele selbst erhielt am 25. August 1825 für »die Leitung der Verschönerungsanstalten um die Stadt Schrobenhausen« von der Stadt ein Honorar von 54 Gulden angewiesen.

Der Dank der Stadt ging sogar so weit, daß »auf Verlangen« des Magistrats am 23. Juni 1825 gegen Bezahlung von 3 Gulden und 21 Kreuzern ein Artikel in das Münchner Unterhaltungsblatt »Flora« eingerückt wurde, der mit der spröden Überschrift »Über Landes-Verschönerung« versehen war. Die Quit­tung des Redakteurs brachte Max Direktor vom Schrobenhausener Stadt­archiv auf die Spur dieser »Geburtsurkunde« des heutigen Stadtwalls. Der Artikel besteht nur aus fünf Sätzen und ist im Namen des Magistrats von Bür­germeister Frisch unterzeichnet. Zunächst wird die frühere Bedeutung der Wehranlage gewürdigt. Dann folgt das Bekenntnis, daß besonders der östli­che Stadtwall durch die Überschwemmungen der Paar und Weilach schon sehr geschädigt war. Da der Wall aber Schutz vor Hochwasser bieten sollte, war seine Ausbesserung »unvermeidlich« geworden. Es folgen noch drei Sätze: »Der, der hiesigen Stadt während seines kurzen Hierseyns durch die Anlage eines zierlichen und dauerhaften Weges zu den Gottesäckern und mehrere andere Verschönerungs-Anstalten verehrungswerth gewordene k. Oberlieute­nant und Aufschlagseinnehmer Hr. F. Högele brachte in Antrag: den Wall um die Stadt mittelst Aufführung zu einem öffentlichen Spaziergang umzuwan­deln, und bei der bereitwilligen Empfänglichkeit der hiesigen Einwohner für Verschönerung und Kultur übernahm derselbe die Leitung eines Geschäftes, das seine rastlose Thätigkeit im höchsten Anspruch nahm, den hohen Sinn und Sachkenntniß dieses würdevollen Offiziers im höchsten Grade bewährte, und ein unvertilgbares Denkmal des Dankes und der Achtung hiesiger Stadt ihm setzte. Mehr als 5000 Fuhren wurden durch die Menathbesitze (Besitzer von Zugtieren) geleistet, vom October 1824 bis Mai 1825 so unablässig gear­beitet, und die versunkenen Stellen erhoben, daß nun ein 18 Schuh breiter und 2000 Schritte langer Spaziergang angelegt, derselbe mit 400 Bäumen und Gesträuchen besetzt, und das Ganze einer neuen Schöpfung ähnlich vollendet ist, so daß dieser Platz täglich, selbst auch von durchreisenden Fremden besucht, und als zweckmässig und wohlgeordnet befunden wird. Für die Aus­führung dieses Unternehmens gebührt dem Hrn. Oberlieutenant Högele, als Antragsteller und Leiter des Geschäftes, der wohlverdienteste Dank der hiesi­gen Bürgerschaft, welcher demselben hiermit unter dem Wunsche gezollt wird, daß diesen verdienstvollen Beförderer der Verschönerung und des Gemeinnützigen noch oft der Wink des Wirkens in diese seine Lieblings­sphäre erwarten, und seinem unermüdet thätigen Geist Gelegenheit schaffen wolle, allenthalben seinen Mitbürgern, wie uns, nützlich zu seyn, und sie durch ähnliche Werke, gleich entsprechend dem wohlthätigen Sinne der Aller­höchsten Gesetzgebung, wie den Einwirkungen auf Menschenwohl und Glück, zu erfreuen.«

Außer der halsbrecherischen Satzbautechnik des Artikels fällt auf, daß in die­sem offiziellen Bulletin Hegele als einziger Initiator der Wallsanierung darge­stellt wird. Es gab aber noch einen zweiten: den Volksschullehrer Michael Sommer.

In einem Lebensbild Sommers, veröffentlicht 1906 vom Historischen Verein Schrobenhausen, schreibt Ludwig Gröschl: »Der Wall um unsere Stadt war fast baumlos, ungleich und nieder. Auf Sommers Betreiben stellte Bierbrauer Schredinger einen ganzen Sommer, 1825, ein Pferd zur Beifuhr von Erde zur Verfügung, während Kaufmann Khan, Nadler Pöllath und einige andere Bür­ger das Unternehmen mit Geldbeiträgen unterstützten. An der äußeren und inneren Böschung pflanzte Aufschläger Hegele Bäume; die Strecke vom Post­garten bis zum oberen Tor war mit wilden Rosen besetzt, und vom Herzog­Max-Garten bis zur Fronfeste zierte eine freundliche Blumenanlage die äußere Wallböschung.« Es ist zwar nicht genauer bekannt, wie intensiv Som­mers »Betreiben«, wie aktiv seine Beteiligung am Projekt Stadtwall war, aber Georg August Reischl, der ehemalige Hüter des Stadtarchivs, würdigt im ein­gangs erwähnten Zeitungsartikel von 1958 Hegele und Sommer als Antriebs­kräfte zur Rettung des Stadtwalls: »In Hauptlehrer Sommer und Aufschläger Hegele erstanden dem vernachlässigten Stadtwall tatkräftige Freunde. Sie warben für eine schöne Bepflanzung, gewannen die finanzielle Hilfe angese­hener Bürger und legten selbst unentwegt Hand an ( … ).«

Ein Blick in die Lebensbeschreibung Sommers zeigt, daß seine maßgebende Mitwirkung an der Bepflanzung des Walls mehr als wahrscheinlich ist:

Michael Sommer, gebürtig aus Kempten, kam im September 1822 nach Schro­benhausen. Sein Vater war Verwalter einer Ökonomie gewesen, und zeitlebens interessierte Sommer sich und seine Schulkinder für landwirtschaftliche Fra­gen. In der Gemeinde Steingriff – in der nach ihm heute noch so benannten »Sommerau« – bewirtschaftete er selbst einige Tagwerk Ackerland. Auch an der Stadtmauer hatte er einen Garten. »Irn gegenwärtigen Friedhof( … ) waren die meisten Grabstätten ungeordnet durcheinander. Solch gar zu länd­liche Gestaltung beleidigte sein ästhetisches Gefühl, und er ruhte nicht, bis er 1841 die Erlaubnis erhielt, die Grabstätten in Reihen zu bringen und Gänge anzulegen.« Sommer setzte auch die Errichtung eines Kreuzweges durch. Auf  einer Wiese an der Straße nach Hörzhausen baute er eine unterirdische Halle mit Rasendach; das Licht fiel durch farbige Gläser magisch in den Raum, in dem Tische und Bänke zum Ruhen einluden. In heutiger Zeit wäre Sommer wohl Landschaftsarchitekt geworden. Als der 22jährige Lehrer 1822 nach Schrobenhausen versetzt wurde, muß er sofort erkannt haben, welche land­schaftsgestalterischen Möglichkeiten der Stadtwall bot. Zwei Jahre später war er dann schon mit dabei, den Wall neu anzulegen.

Von dem in Schrobenhausen erst kurz vorher zugezogenen Sommer und dem offensichtlich auch noch nicht lange hier lebenden Hegele ging also der Impuls zur Wiederbelebung des darniederliegenden Stadtwalls aus. Daß sie in verhältnismäßig kurzer Zeit tatkräftige Unterstützung für die Bepflanzungs­aktion finden konnten, spricht wohl dafür, daß der Gedanke vom grünen Stadtwall schon »in der Luft lag« oder vielleicht sogar schon in groben Zügen geplant war. Jedenfalls rannten beide mit ihrem Vorstoß offene Stadttore ein.

»Landes-Verschönerung«

Im »Unternehmen Stadtwall“ wird damaliger Zeitgeist offenbar, der nun auch außerhalb der aristokratischen Ziergärten ein Bestreben nach Verschö­nerungsmaßnahmen durch geplante Naturgestaltung entwickelte. Die her­aufdämmernde Industrialisierung drängte die Natur aus ihrer Selbstverständ­lichkeit in die Rolle des Besonderen, der Verzierung. Man wurde sich der Ästhetik der Natur bewußt im Moment ihrer Bedrohung. 1825, als in Schro­benhausen »Landes-Verschönerung« praktiziert wurde, verdunkelte in Eng­land der Dampf der ersten Lokomotive den Himmel (50 Jahre später war auch Schrobenhausen an das wachsende Eisenbahnnetz angeschlossen); im selben Jahr vollendete Caspar David Friedrich sein Gemälde »Watzmann«, ein Bild, das reine, ätherische Natur beschwört im künstlerischen Bewußtsein ihrer Bedrohung. Diese Bedrohung hat heute ein Maß erreicht, das uns Bäume wie die auf dem Stadtwall fast als Reliquien – wenn nicht bald als Fossilien – erscheinen läßt …

Wolkenbruch

Der aufgelassene äußere Graben regte Mitte des 19. Jahrhunderts einige wirt­schaftliche Nutzungsversuche an: Im südlichen Teil der Wallanlage wurden von der Stadt Maulbeerbäume angepflanzt, nach dem Vorbild des Lebzelters Kröner. Aber das rauhe Klima ließ nichts aus der Seidenraupenzucht werden, die Anpflanzung ging ein. Landgerichtsarzt Dr. Hug und auch Michael Som­mer versuchten, in extra angelegten Teichen im äußeren Stadtgraben Blutegel zu züchten. Reischl zitiert einen Zeitgenossen: »( … ) die eingeworfenen Blut­egel wurden durch eine wilde Flut, verursacht von einem Wolkenbruch, größ­tenteils aus ihren Teichen weggeschwemmt.«

Das Wasser im Stadtgraben – ehemals zur Abschreckung der Angreifer gedacht – schreckte schließlich die Schrobenhausener Bürger selber ab: 1870 forderten sie die Kanalisation des inneren Grabens, weil sie der Gestank des Brackwassers störte. So wurden die Stadtgräben mit der Zeit trockengelegt. Auf zwei alten Postkarten aus der Jahrhundertwende, veröffentlicht in den »Schrobenhausener Ansichten« (S. 78 f.), kann man noch einen Bach im west­lichen äußeren Graben und eine Holzbrücke darüber sehen. Beides -vor Zei­ten aus der Mode gekommen und als rückständig, unpraktisch eliminiert- hat jetzt gute Chancen, wieder zurückzukehren.

Am 16. August 1916, abends zwischen acht und neun Uhr, versetzte die Natur selbst dem Stadtwall einen harten Schlag: »Fast ist die Feder nicht im Stande, ein Bild von der Verwüstung zu geben. Uralte Bäume, mit l1/2 Meter Durch­messer, welche seit fast hundert Jahren jedem Unwetter trotzten, liegen nun dutzendweise mitsamt dem Wurzelstock in den Gräben oder Gärten und ver­sperren die Passage. ( … ) Der östliche Stadtwall«, so das »Schrobenhausener Wochenblatt«, »hat besonders arg gelitten«. Sofort wurden die Lücken wie­der aufgeforstet.

Wallfahrt

Kommen Sie mit auf eine Runde um den Stadtwall? Sie durchqueren dabei einen Wald, in dem über 500 Bäume stehen, vor allem Kastanien, Ahorn­bäume, Eichen und Linden. Das dichte Blätterdach schützt Sie vor der Sommerhitze. Bei einem Platzregen genießen Sie es, unter den Baumriesen im Trockenen zu sein, während es »draußen« gießt. Aus dem Dschungel der riesi­gen Baumkronen vernehmen Sie Gezwitscher, Gezeter und Geflöte; dort tummeln sich zahlreiche Vogelarten, tatkräftig gefördert durch die einladen­den Nistkästen des Vereins der Vogelfreunde.

Ein Baumriese jagt Ihnen einen Schreck ein – er ist mit Seilen festgebunden, mit Drainageröhrchen gespickt, mit Baumwachs maskiert. Einige solcher arboresker Gruselstücke zeigen, daß auch Bäume altern. »Sanierung« heißt das Zauberwort, und der Stadtrat hat dafür in den letzten Jahren viel Geld lok­kergemacht. langsam rückt aber dennoch der Zeitpunkt heran, an dem Neu­anpflanzungen größeren Ausmaßes nötig sein werden, damit es für die nach­folgenden Generationen wieder einen »Stadtwald« gibt …

Sollte sich Ihr Kind plötzlich von Ihrer Hand losreißen, lassen Sie es laufen: Es ist der magischen Anziehungskraft der Spielgeräte erlegen, die 1985 an zwei Stellen des Stadtgrabens neu aufgestellt wurden. Wenn es Herbst ist, wer­den Sie der Versuchung nicht widerstehen können, eine der glänzenden Kasta­nien vom Boden aufzuheben. Im Winter sind Sie Zeuge dramatischer Schlit­tenabfahrten dick eingemummter Zwerge.

Begegnen Sie auf Ihrem Spaziergang einem Hund, so ermahnen Sie ihn zu ehr­fürchtiger Reinhaltung des Kulturschatzes. Diese Ermahnung dürfen Sie auch verschiedenen Mitmenschen zuteil werden lassen, denn bei einer Suchaktion wurden im Bereich des halben Stadtwalls einmal nicht weniger als 252 Müll­teile gefunden, darunter auch ein Hundertmarkschein – allerdings Spielgeld. Auf Ihrer »Wallfahrt« begleiten Sie auf der einen Seite der innere Graben und die Stadtmauer; auf der anderen Seite läuft der äußere Graben mit, von par­kenden Autos umzingelt, die den Bäumen auf den Zehen stehen. Manchmal rächt ein Vogel oder eine herabfallende Kastanie dieses Heranrücken der Blechlawine. Sie müssen sich hie und da vor eiligen Radfahrern retten, denen der Stadtwall halb lästiges Hindernis, halb sportliche Herausforderung ist – Fahrverbot hin oder her. Es kann Ihnen aber auch passieren, daß Ihr Spazier­schritt plötzlich gehemmt wird von zwei nebeneinanderschreitenden Gesprächspartnern, deren Diskurs gerade einen so intensiven Punkt erreicht hat, daß sie nur noch im Schneckentempo vorrücken. Überholen können Sie schwerlich. Der Weg ist schmal und die Böschung ist steil, besonders am west­lichen Wall. Jetzt brauchen Sie Geduld und ein bißchen Zeit- beides sind Kul­turgüter, die Sie im Ritardando des Stadtwalls wiederfinden können …

Sie sind jetzt auf dem Wall einmal um die ganze Stadt herumgegangen und können auf Ihrer Trimm-Dich-Karte 1,33 Kilometer eintragen. Sind es 2000 Schritte, wie es 1825 in der Zeitschrift »Flora« zu lesen war? Falls Sie sich nun in das Geschäftsleben der City stürzen wollen, haben Sie am östlichen und am westlichen Wall je zwei romantische Durchgänge durch die Stadtmauer zur Auswahl. Wenn Sie gestreßt zurückkommen und etwas Erholung brauchen:

Der Stadtwall ist immer für Sie da!

Gucklöcher

Biologisch gesehen verbessern die Bäume des Stadtwalls das Kleinklima. Finanzpolitisch ausgedrückt erbringt das »grüne Oval« jährlich eine Leistung von weit über einer Million Mark, legt man den volkswirtschaftlichen Nutzen eines Baumes zugrunde, wie ihn Frederic Vester 1985 ermittelte – für alle, denen Naturschutz leichter fällt, wenn sich dabei irgend etwas »rechnet«. Ver­kehrstechnisch gesehen ist der Wall ein autofreies Roundabout, auf dem die Fußgänger sehr positive Luftwerte vorfinden. Von kultureller Seite her darf man den Stadtwall als historischen Rundwanderweg mit vielen Gucklöchern in die Vergangenheit preisen. Psychologisch betrachtet verschafft uns ein Gang auf dem erhöhten Weg des Stadtwalls das Gefühl, über den Dingen zu stehen; die Eindeutigkeit des von stummen und mächtigen Bäumen gesäum­ten Weges fördert die Konzentration und die innere Ruhe; das Blätterdach ver­mittelt ein Gefühl von Raum und Geborgenheit. Und der ästhetische Nutz­effekt: Nicht nur der Anblick der archaischen Baumgestalten erfrischt das an abgezirkelte Industrieformen gewöhnte Auge, sondern auch der Stadtwall als Ganzes, als Oval, bietet uns eine optische Sensation, die wir freilich nur von den Luftaufnahmen her kennen. Fühlt nicht ein Düsenjägerpilot, besser viel­leicht: ein über Schrobenhausen hinweggondelnder Ballonfahrer, wie »heime­lig« eine eingefaßte Siedlung wirkt? Die grüne Grenzlinie strukturiert, gibt Maß und schafft Übersichtlichkeit, die uns zugleich Sicherheit bedeutet. Ent­fernt man zum Spaß – in einer Collage habe ich es versucht – den grünen Ring um die Stadt, dann wird aus dem Stadtkern von Schrobenhausen das, was aus vielen neuzeitlichen Städten und Siedlungen geworden ist: ein gleichförmiger, unübersichtlicher Siedlungsbrei, ohne Orientierungspunkte, bau- und · finanztechnisch rationell, aber ohne Berücksichtigung humaner Seh- und Denkgewohnheiten, die schließlich den Maßstab für urbanes Wohlbefinden setzen.

Was wäre Schrobenhausen ohne Stadtwall? Eine Collage von Karl Stöger.

Flora

Schrobenhausen hat Glück gehabt, daß es nicht zu Brei geworden ist. Allen, die sich darum Verdienste erworben haben, sollte ein Bäumchen gepflanzt werden – auf dem Stadtwall, im Goachat, in der Innenstadt, in Ihrem Garten, in Ihrer Straße, im zukünftigen Stadtpark und wo immer noch ein Plätzchen frei ist, wie ehemals auf dem öden Stadtwall …

 

Quellen

Bickel, Benno; Pollinger, Thekla Maria: Schrobenhausener Ansichten. Schrobenhausen 1980.

Fick, Michael: Chronikon der Stadt Schrobenhausen. Schrobenhau­sen 1850. S. 82 r.

Flora: Ein Unterhaltungs-Blatt, Nr. 99, 23. Juni 1825.

Gröschl, Ludwig: Lebensbild des Oberlehrers Michael Sommer. In: Vorträge, gehalten im Historischen Verein für Schrobenhausen und Umgebung. Erste Reihe. Schrobenhausen 1906.

Reischl, Georg August: Lenbach und seine Heimat. Schrobenhausen 0. J. (1954).

Reischl, Georg August: Der alte Schutzgürtel der Stadt bedarf unse­res Schutzes. In: Schrobenhausener Zeitung, 14. Juni 1958.

Schrobenhausener Zeitung, 19. August 1916 (Unwetter).

Vester, Frederic: »Ein Baum ist mehr als ein Baum«. München 1985.

Vitzthum, Werner: [verschiedene Beiträge]. In: Schrobenhausener Zeitung, 1980-1992.

Dank an Max Direktor vom Stadtarchiv

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Durchgesehene Fassung eines Textes aus dem Jahre 1992. Die Rechtschreibung wurde nicht angepasst.
© 1992 Karl Stöger

 




Der Chronist Johann Evangelist Waldvogel

Johann Evangelist Waldvogel (1804-1855). Bisher war so gut wie nichts zur Biographie dieses Schrobenhausener Chronisten bekannt. Geboren ist Waldvogel – in den meisten Quellen in Gegensatz zur Titelseite der Chronik Waldvogel geschrieben – im Jahr 1804 in Schrobenhausen als Sohn des dortigen Kaminkehrers. Waldvogel studierte Theologie in München. Im Jahr 1836 ist er Kaplan in Neuburg. Nach einem kurzen Aufenthalt in Genderkingen wird Waldvogel zunächst Pfarrprovisor in Nördlingen und  im Jahr 1838 zum katholischen Stadtpfarrer in der protestantisch geprägten Stadt ernannt. Waldvogel wird Distriktsschulinspektor und ab 1846 Dekan für das Dekanat Donauwörth. Der Jahresbericht der Lateinschule Nördlingen vom Jahr 1854/55 berichtet: „Am 10. Juni verließ der k. katholische Dekan Waldvogl, der den katholischen Religions- und Geschichtsunterricht an der Anstalt zu geben hatte, die hiesige Pfarrei, um eine andere anzutreten, nachdem er in diesem Schuljahr durch Kränklichkeit vielfältig gehindert worden war, den Unterricht an der Lateinschule mit seiner gewohnten Treue zu besorgen.“ Im Mai 1855 war ihm die Pfarrei Loppenhausen im Landgericht Mindelheim verliehen worden. Am 27. Juni, kurz nach seiner Ankunft an seiner neuen Wirkungsstätte, stirbt Johann Evangelist Waldvogel. Drei Jahre später erscheint seine „Historische Skizze“ im Verlag der M. Hueber’schen Buchhandlung in Schrobenhausen. In einer Anzeige im Schrobenhausener Wochenblatt vom 20. Febr. 1858 heißt es: „Dieses in jeder Beziehung interessante Schriftchen wird Niemand ohne Befriedigung lesen, und ist bei dessen Billigkeit Jederman ermöglicht, sich dieses Werkchen zu verschaffen.“

Diese erste Kurzbiographie beruht nicht auf Archivrecherchen, sondern wurde allein über Recherchen im Internet zusammengestellt. Für die freundliche und großzügige Unterstützung bedanken wir uns ganz herzlich bei Marie-Luise Missel vom Bayerischen Landesverein für Familienkunde.




Der Heimatforscher Michael Thalhofer

Michael Thalhofer (1855-1929) wurde in Aichach geboren. Er besuchte das Gymnasium in München und studierte dort anschließend Theologie. Im Jahr 1877 wird er zunächst zum Kaplan in Schrobenhausen ernannt, danach war er hier fast ein halbes Jahrhundert Benefiziat. Seine besondere Neigung zur Heimatgeschichte konnte er als Gründungsmitglied des Historischen Vereins ausleben, fast dreißig Jahre war er dessen Schriftführer. Er hielt zahlreiche Vorträge und publizierte sie in der historischen Reihe des Vereins. Er gab die hier digitalisierte Broschüre im Auftrag des Vereins heraus und veröffentlichte im „Ehrenbuch“ die auch heute noch anrührenden und zeitgeschichtlich bedeutsamen Briefe von Schrobenhausener Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg. Heute zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist seine Chronik „Zur Schrobenhauser Geschichte“, die in zahlreichen Folgen in den Schrobenhausener Wochenblättern 1886 bis 1888 erschien. Im Jahr 1927 verlieh ihm die Stadt Schrobenhausen für seine Verdienste das Ehrenbürgerrecht.

Publikationen (Auswahl)

  • Zur Schrobenhauser Geschichte, in: Schrobenhausener Wochenblatt, 27. Febr. 1886 bis 7. Jan. 1888 (Serie bricht mit diesem Beitrag ab) – Die Autorschaft Thalhofers geht hervor aus seinem Beitrag: Aus grauer Vorzeit Tagen, in: Vorträge, gehalten im Historischen Verein Schrobenhausen und Umgebung, Zweite Reihe, Schrobenhausen 1908, S. 131
  • Eine Jubiläums-Erinnerung, in : Vorträge, gehalten im Historischen Verein für Schrobenhausen und Umgebung, Erste Reihe, Schrobenhausen 1906, S. 29-36 – Martin Neugschwendner im Spanischen Erbfolgekrieg 1704
  • Einige Legenden und Sagen aus dem Bezirk Schrobenhausen, in: Vorträge, gehalten im Historischen Verein für Schrobenhausen und Umgebung, Erste Reihe, Schrobenhausen 1906, S. 37-70
  • Zur Geschichte des Franziskanerklosters in Schrobenhausen 1642-1802, in: Vorträge, gehalten im Historischen Verein für Schrobenhausen und Umgebung, Erste Reihe, Schrobenhausen 1906, S. 71-134
  • Aus grauer Vorzeit Tagen, in: Vorträge, gehalten im Historischen Verein für Schrobenhausen und Umgebung, Zweite Reihe, Schrobenhausen 1908 , S. 104-13 – Aufsatz über prähistorische Funde und mittelalterliche Quellen und Urkunden
  • Aeltere Geschichte der Schule Schrobenhausen, in: Vorträge, gehalten im Historischen Verein für Schrobenhausen und Umgebung, Zweite Reihe, Schrobenhausen 1908, S. 133-151
  • Schrobenhausen, seine Geschichte, Sehenswürdigkeiten und Umgebung, Schrobenhausen [1910]
  • Von Hohenwart in Oberbayern: dem Klosterberg und Markt, in: Vorträge, gehalten im Historischen Verein für Schrobenhausen und Umgebung, Vierte Reihe, Schrobenhausen 1921, S. 1-251
  • Michael Thalhofer (Hrsg.): Ehrenbuch zum Gedächtnis der aus der Stadtpfarrei Schrobenhausen 1914-1918 gefallenen Krieger, Schrobenhausen 1923

 

 




Die ältesten Schrobenhausener Ansichtskarten 1900-1920

Jahrhunderte lang wurden Mitteilungen als gefaltete, verschlossene, meist versiegelte Briefe verschickt. Offene Mitteilungen mittels Karte zu versenden bürgerte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, zunächst in Form der „Correspondenz-Karte“ oder „Post-Karte“ ohne Abbildungen, dann als „Ansichtskarte“ mit Lithografien und später meist mit Fotomotiven.

Wann genau die erste Ansichtskarte mit Schrobenhausener Motiven auf den Markt gekommen ist, wird vielleicht nie endgültig geklärt werden können. Poststempel erzählen uns, dass schon in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts eine größere Anzahl von Schrobenhausener Karten im Umlauf war, zu einer Zeit also, als das so genannte Goldene Zeitalter der Ansichtskarte begann. Manche Karten erscheinen uns heute eher als schlicht und fesseln uns vor allem wegen der frühen Stadtansichten, die in privaten Fotoalben in dieser Form eher selten sind. Ob schwarz-weiß oder farbig – alle Karten sind wahre Meisterwerke der jeweils zeitgenössischen Drucktechniken.

Ansichtskarten durften zunächst nur auf der Vorder-, also der Bildseite beschrieben werden, erst im Jahr 1905 wurden Karten zugelassen, bei denen die Adress-Seite geteilt war, also auch einen Raum für Mitteilungen zur Verfügung stellte.

Einer der größten Ansichtskartenverlage war der Verlag der Gebrüder Metz in Tübingen. Das Stadtarchiv Schrobenhausen besitzt ein Album dieser Firma, aus dem meist die Auflagejahre und die Auflagenhöhe der Karten hervorgehen. Aber auch Schrobenhausener Geschäftsleute boten Ansichtskarten an, so zum Beispiel die Hueber’sche Buchhandlung oder der Verlag Johann Hickl.

Im Lauf von mehr als 100 Jahren wurde eine fast unvorstellbare Menge von Schrobenhausener Ansichtskarten gedruckt. Eine genaue Zahl zu nennen, ist kaum möglich. Sammler sprechen von weit mehr als 800 oder gar von mehr als 1.000 Schrobenhausener Motiven. Neben einigen Schrobenhausener Privatsammlern mit zum Teil erstaunlich umfangreichen Beständen besitzt das Schrobenhausener Stadtarchiv eine stattliche Sammlung mit über 500 Schrobenhausener Motiven, auch über die einzelnen Ortsteile. Die Karten wurden im Lauf vieler Jahre von Antiquariaten erworben oder waren Bestandteil von Schenkungen oder Nachlässen Schrobenhausener Bürger.

 

Weiterarbeit

Die wenigen hier gezeigten Karten sollen erst ein Anfang sein und im Lauf der Zeit ergänzt werden, ob nach Zeitepochen oder nach Motiven muss sich erst noch herausstellen. Und wir werden auch unseren Einleitungstext immer wieder überarbeiten, denn Post- und Ansichtskarten sind ein sehr spannendes und beinahe unerschöpfliches Thema.

 

Schrobenhausener Postkartenbücher

Schrobenhausener Ansichten – eine Stadt in alten Postkarten, hrsg. von Benno Bickel und Thekla Maria Pollinger, Schrobenhausen 1980 (im Auftrag des Kunstvereins Schrobenhausen, erschienen im Verlag Benedikt Bickel)

Schrobenhausen. Die Stadt im Spiegel alter Postkarten, Schrobenhausen 2010 (Stadtsparkasse Schrobenhausen)

Beide Titel können über Antiquariatsportale erworben werden.

 

 

 

 

 

 

Villen in Schrobenhausen

 

Gruss aus Schrobenhausen

 

 

 

Ansichtskartenbuch der Firma Metz, Tübingen, für die Stadt Schrobenhausen. Die Seiten zeigen Karten aus den Jahren 1909 bis 1910. Wohl aus Versehen eingeklebt sind hier auch Karten von Kloster Scheyern. Einträge gibt es über Nachdrucke, über den Auftraggeber (hier meist die Hueber’sche Buchhandlung in Schrobenhausen), später auch über die Auflagenhöhe. Dieses unschätzbare Buch wurde vor vielen Jahren vom Stadtarchiv Schrobenhausen angekauft.

 

 




Bilder aus der Geschichte Mühlrieds

Blick von Schrobenhausen nach Mühlried 1956

Blick von Schrobenhausen nach Mühlried 1956

Mühlrieds Geschichte reicht bis weit ins Mittelalter zurück. Schon um das Jahr 1200 tauchen in verschiedenen Urkunden mehrere Personen auf, die mit dem Ortsnamen verbunden sind: ein „Diepolt de Mulried“, ein „Pilgrimus de Mulriet“ und ein „Rudiger de Mulried“ . Die Deutung des Ortsnamens bereitet keine Schwierigkeiten: Denn „ried“ bedeutet nichts anderes als ein mit Schilf oder Sumpfgras bewachsener Grund. Mühlried war also ein solcher Ort, auf dem eine Mühle stand.

 

Die Dorfmühle

Namensgebend für die Ansiedlung war wohl die Dorfmühle, die dort stand, wo heute noch das Stauwehr der Paar zu sehen ist. Zum ersten Mal urkundlich erwähnt wird die Dorfmühle um das Jahr 1400. Anno 1468 erwirbt sie Ritter Wiguläus von Weichs, durch Heirat geht sie 1517 in die Hände von Ritter Sigismund von Sandizell auf Edelshausen über. Die Mühle wurde von den Hofmarksherrn nie selbst bewirtschaftet, sondern „verstiftet“, das heißt an Müller zur Bewirtschaftung gegen Abgaben übergeben. Die umfangreichen Archivbestände der Hofmark Edelshausen, von denen sich ein großer Teil im Stadtarchiv Schrobenhausen befindet, erzählen uns sehr viel über das Schicksal der Mühle und der Müller: Von Hofübergaben, Heiratsabreden, Schuldsachen, Unglücksfällen, Streitsachen zwischen den Paarmüllern wegen Wasserbau und von Verwüstungen durch Hochwasser und Eisstöße.

 

Verschiedene Grundherren

Das Leben der Dorfbewohner war Jahrhunderte lang geprägt von der Grundherrschaft: Die Bauern konnten über Grund und Boden nicht frei verfügen, sie waren abhängig von Grundherren, die ihnen Haus und Grund gegen Abgaben und Scharwerksdienste zur Bewirtschaftung übergaben. Eine Zusammenstellung aus dem Jahr 1752 zeigt die enge Beziehung Mühlrieds zu Hohenwart, denn fast die Hälfte der 38 Höfe stand unter der Grundherrschaft des Klosters Hohenwart, 10 Höfe gehörten zur Hofmark Edelshausen, der Rest teilte sich auf zur Hofmark Steingriff, Niederarnbach und direkte Untertanen des bayerischen Herzogs. Große Bauern gab es nur wenige, drei Viertel aller Höfe waren so genannte „Sechzehntelhöfe“, d. h. Höfe mit nur kleinem Grundbesitz, bei denen der Lebensunterhalt eher schlecht als recht gesichert war. Die Grundherrschaft lastete in Bayern bis ins 19. Jahrhundert auf der bäuerlichen Bevölkerung, erst im Revolutionsjahr 1848 wird sie aufgehoben.

 

Die Bildung der modernen Gemeinde

Die alte bayerische „Dorfgmain“ war keine Verwaltungseinheit, sondern regelte nur die wirtschaftlichen Angelegenheiten rund um das Dorf: sie befasste sich mit Grundstücken, Wald, Weide, Nutzungsrechten, Wegebau. Die Bildung der modernen Gemeinden erfolgte durch das Gemeindeedikt von 1818: Dörfer, Ortschaften, Weiler und Einöden wurden zu einer politischen Gemeinde zusammengefasst, der als unterster Verwaltungseinheit auch genau definierte Kompetenzen zugesprochen wurde: z. B. die Aufsicht auf das Schul-, Armen- und Stiftungswesen und die niedere Polizeigewalt. Zur Gemeinde Mühlried gehörten die Orte Königslachen und Ried, die Weiler Sandhof, Högenau und Altenfurt sowie die Einöden Rinderhof und das Gut Weil. Erster Gemeindevorsteher nach den Bestimmungen des Gemeindeedikts wurde der Bauer Jakob Tiroller, Gemeinde-Bevollmächtigte („Gemeinderäte“) die Bauern Joseph Kramer und Simon Schäfer sowie der Schneider Willibald Wagner.

 

Die agrikole Statistik 1840

Alle Orte rund um die Stadt Schrobenhausen waren bis weit ins 20. Jahrhundert stark landwirtschaftlich geprägt. Als im Jahr 1840 die agrikole Statistik für ganz Bayern erhoben wurde, zeigt sich zum ersten Mal ein sehr detailgenaues Bild der Gemeinde Mühlried. Von den insgesamt 62 Familien leben 39 Familien als „Gutsbesitzer“ vom Landbau, 17 Familien besitzen nur ein Leerhaus, das heißt sie haben keinen oder nur sehr geringen Grundbesitz und müssen vom Taglohn leben, nur 6 Familien üben ein Gewerbe aus, doch auch sie haben Feldbesitz, weil die gewerblichen Einkünfte offensichtlich nicht ausreichen. Der Landwirtschaft zugeordnet sind 32 Knechte und 23 Mägde, für das Gewerbe sind 6 Gesellen und Lehrlinge nachgewiesen. Auch der Viehstand wird genau dokumentiert: So finden sich in der Gemeinde 89 Pferde, 96 Arbeitsochsen, 220 Melkkühe sowie 285 Stück Jungvieh und Kälber, 198 Schafe und 100 Lämmer, 41 Schweine und 128 Jungschweine, 33 Enten, 489 Hühner und 100 Tauben.

 

Gewerbe in Mühlried

Mühlried hatte im Jahr 1840 nur 434 Einwohner und nahm hinsichtlich der Einwohnerzahl nur Platz elf der 37 Gemeinden des Landgerichtsbezirks Schrobenhausen ein. Auf Grund der geringen Einwohnerzahl und wohl auch wegen der Nähe zu den städtischen Handwerkern gibt es nur wenige gewerbliche Betriebe in Mühlried. Für das Jahr 1853 ist eine genaue Aufstellung der Gewerbetreibenden erhalten: Wir finden hier den Schuhmacher Josef Schnitzler, den Schneider Robert Wagner, den Müller Franz Huber, den Wirt Mathias Pichler sowie den Müller Johann Zirschling auf der Aumühle.

Das große Mühlensterben im 19. Jahrhundert ging auch an Mühlried nicht spurlos vorbei: Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Mühlen wurden immer schlechter und führten schließlich zu hoher Verschuldung. Die Dorfmühle wurde 1872 vom Schrobenhausener Papierfabrikanten Georg Leinfelder erworben. Er erbaute an deren Stelle eine Holzschleiferei, die aus dem Rohstoff Holz den so genannten Holzschliff herstellte, den Rohstoff für die Papierproduktion in der Schrobenhausener Papierfabrik. Die Holzschleiferei war Mühlrieds erster größerer Gewerbebetrieb. – Auch mit der Aumühle ging es wirtschaftlich bergab: Hochverschuldet ging die Mühle 1881 an die Immobilien-Gesellschaft München über. Im Jahr 1908 wurde die Aumühle von der Stadt Schrobenhausen erworben, die dort – eine nie realisiertes – kleines Wasserkraftwerk errichten wollte. Die Höfe wurden schon kurze Zeit weiterverkauft. – Lange Zeit blieb die Papierschleiferei der einzige größere Betrieb im Ort, im Jahr 1922 gründeten sich die Kunststeinwerke Schrobenhausen, die in Mühlried Zementwaren aller Art herstellten und bereits in den Zwanzigerjahren 20 bis 30 Beschäftigten Arbeit und Brot gaben.

 

Um die Jahrhundertwende

Mühlried wuchs – wie die meisten Landgemeinden – in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nur wenig, der Bevölkerungsüberschuss zieht in die Städte, vor allem die Großstädte, um dort seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Was bewegt die Gemeinde Mühlried um die Jahrhundertwende? Die Beschlussbücher der Gemeinde geben Aufschluss, sie sind ein Spiegelbild des Gemeindelebens der damaligen Zeit. Hier geht es um das Bürgerrecht, das von der Gemeinde verliehen wurde, jedoch von der Zahlung einer direkten Steuer abhing und so bei weitem nicht allen zustand. Beschlossen wurde über das Heimatrecht, das regelte, welche Gemeinde zuständig war, wenn der Heimatberechtigte in finanzielle Notlage geriet, verarmte oder seine Krankenhausrechnungen nicht bezahlen konnte. Beschlüsse wurden gefasst über Ausbau und Reparatur von Straßen, Wegen und Brücken, über die Verpachtung der Gemeindejagd und des Fischwassers, über Nachtwache und Viehhut, natürlich über die Erhebung und Beitreibung der gemeindlichen Steuern und die Aufstellung der Gemeinderechnungen.

 

Statistik von 1939 belegt Wandel

Hundert Jahre nach den ersten genauen statistischen Erhebungen sehen wir Mühlried gründlich verändert. Die Volkszählung von 1939 erhebt nicht nur genaue Daten über die Bevölkerungsanzahl, sondern auch die soziale Stellung und die Arbeitsorte. Mühlried hat jetzt 800 Einwohner, die Bevölkerung hat sich also in den zurück liegenden hundert Jahren nahezu verdoppelt. Der Anteil der Selbstständigen – vor allem Landwirte – ist mit 45 % an den Erwerbspersonen noch relativ hoch, der Anteil der Arbeiter – vor allem nichtlandwirtschaftliche Arbeiter – beträgt 52 %. Angestellte und Beamte spielten als Bewohner noch eine völlig untergeordnete Rolle, was sich jedoch im Lauf der folgenden Jahrzehnte deutlich ändern sollte. Interessant natürlich auch ein Blick auf die Pendelwanderung: Bereits etwa 20 % der Erwerbstätigen arbeitet in Schrobenhausen.

 

Kriegsende und Neubeginn

Mühlried blieb – wie die meisten Orte im Raum Schrobenhausen – von Verwüstungen während des Zweiten Weltkrieges verschont. Schon während der Kriegszeit waren aus den bombardierten Städten Ausgebombte und Evakuierte in die ländlichen Gebiete gezogen oder geschickt worden. Seit 1946 strömen tausende von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen in den Landkreis Schrobenhausen. Das führt auch in Mühlried zu einer starken Bevölkerungszunahme, nämlich von 800 im Jahr 1939 auf 1.074 im Jahr 1946, eine Zunahme von über 30 Prozent in wenigen Jahren.

 

Mühlried wird zweitgrößte Gemeinde

Mühlried wurde als Siedlungsgebiet direkt vor den Toren der Stadt immer beliebter. Bereits im Jahr 1955 war die Bevölkerung auf 1.408 Einwohner gestiegen, eine Steigerung von 80 % in den zurück liegenden 16 Jahren. Mühlried ist damit bereits zweitgrößte Gemeinde im Landkreis Schrobenhausen nach der Kreisstadt. – Im Jahr 1956 wird Georg Paulus zum Bürgermeister gewählt – er sollte den Weg der Gemeinde bis zur Eingliederung in die Stadt 22 Jahre lang begleiten. Auch später noch wird er als Stadtrat die Interessen Mühlrieds vertreten. Ausgezeichnet wurde er für seine Verdienste später unter anderem mit der Bürgermedaille. – Zahlreiche große Probleme waren mit der Bevölkerungszunahme verbunden: Baugebiete mussten erschlossen werden, Straßen gebaut werden. Schon Ende der Fünfzigerjahre wurde die Wasserqualität als unzureichend empfunden. Im Jahr 1961 begann Mühlried mit dem Bau einer zentralen Wasserversorgung, die Wasserlieferung übernahm die Kreisstadt. Parallel dazu wurde die Kanalisation projektiert und Stück für Stück verwirklicht. Jeder zweite Beschluss des Mühlrieder Gemeinderats beschäftigte sich inzwischen mit Bauanträgen und damit zusammen hängenden Problemen wie Wasserversorgung, Kanalisation, Straßenbau.

 

Die Riederwaldsiedlung

Der Bauboom in Mühlried in den Sechzigerjahren ist ungebrochen. In dieser Zeit entsteht auch die bis dahin größte zusammenhängende Siedlung, die Riederwaldsiedlung. Am 27. Januar 1961 erklärt sich der Gemeinderat einstimmig mit dem Gesuch von Johann Jodl einverstanden, in Mühlried eine so genannte Nebenerwerbssiedlung für Heimatvertriebene zu errichten, die den Namen „Am Riederwald“ tragen sollte. Im Herbst desselben Jahres trafen sich im Gasthaus Wünsch mehr als hundert Siedlungsbewerber, um über das Projekt zu beraten, im Jahr darauf erfolgt die Aufteilung des Grund und Bodens an sechsundvierzig Siedler. Im Herbst 1964 beginnen die Bauarbeiten, im Jahr darauf ziehen bereits 400 Neubürger ein, im Juni 1966 erfolgt die offizielle Einweihung. Zwei Jahre später wird die Riederwaldsiedlung im Bundeswettbewerb „Die besten Kleinsiedlungen“ zweiter Landessieger.

 

Mühlried erhält ein Wappen

Im Februar 1965 beschließt der Mühlrieder Gemeinderat die Annahme eines Wappens, die Diskussion über die Wappenentwürfe zieht sich jedoch hin. Zwei Jahre später wird das neue Wappen der Gemeinde vom Bayerischen Staatsministerium des Innern genehmigt. Die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, die zu allen Wappenentwürfen gehört wird, schreibt im Abschlussgutachten: „Mühlried war der Stammsitz eines spätmittelalterlichen Adelsgeschlechts, der Herren von Mühlried, die im Wappen einen Einhornkopf führten. Dieses die Ortsgeschichte symbolisierende Zeichen wird mit einem Mühlrad verbunden, um einmal auf den Gemeindenamen hinzuweisen und zum anderen die seit alters in der Gemeinde nachgewiesenen zahlreichen Mühlen darzustellen.“

 

Umgehungsstraße entlastet Mühlried

Über 200 Jahre war die Verbindungsstraße zwischen Augsburg und Regensburg durch die Innenstadt Schrobenhausens und durch Mühlried verlaufen. Von Mitte der Fünfziger- bis Mitte der Sechzigerjahre hatte sich das Verkehrsaufkommen der inzwischen als B 300 bezeichneten Straße verfünffacht. Schon im Jahr 1963 wurden ernsthafte Gespräche über die „Ortsumgehung Schrobenhausen-Mühlried“ geführt. Im Herbst 1965 hatten die Arbeiten begonnen, zwei Jahre später war es endlich so weit: Die Umgehungsstraße konnte offiziell eingeweiht werden und brachte für Mühlried eine enorme Verkehrsentlastung. – Wie sich die Zeiten ändern: Schon früher war diese Straße an Schrobenhausen und Mühlried vorbei verlaufen, nämlich über dem Paartal durch den Weiler Ried Richtung Waidhofen. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde diese wichtige Verbindungsstraße, auf Wunsch der Stadt so verlegt, dass sie nun durch die Stadt und damit auch durch Mühlried verlief, weil man sich durch den zunehmenden Verkehr wirtschaftliche Vorteile versprach.

 

Die erste Kolpingsiedlung Bayerns

Die zweite große geschlossene Siedlung in Mühlried entstand durch die Initiative der Schrobenhausener Kolpingfamilie. Es sollte die erste geschlossene Kolpingsiedlung Bayerns werden. Die Bemühungen der Kolpingfamilie reichen bis ins Jahr 1964 zurück. Ziel der Siedlungsinitiative war, auch Familien mit Kindern und sozial schwächeren Familien zu einem eigenen Heim zu verhelfen. Drei Jahre später wurde die Wohnbaugemeinschaft Schrobenhausen gegründet, im Frühjahr 1969 wurde der Bebauungsplan genehmigt, im Herbst der Grundstein der Siedlung gelegt. Bis Weihnachten 1970 konnten bereits sechs Häuser bezogen werden, im September 1971 wurde die Siedlung offiziell eingeweiht: Sie bestand aus 12 Zweifamilienhäusern, 19 Reihenhäusern und 8 Bungalows mit insgesamt 51 Wohnungen und gab rund 180 Menschen ein neues Zuhause.

 

Eigene Schule und neue Kirche

Mühlried hatte keine eigene Kirchengemeinde, die katholischen Gläubigen waren zur Pfarrei St. Jakob in Schrobenhausen eingepfarrt. Durch den enormen Bevölkerungszuwachs Mühlrieds wurde es notwendig, in Mühlried einen eigenen Kirchensprengel zu bilden und eine neue Kirche zu errichten, da die Kirche St. Ursula nur für eine kleine Dorfgemeinde gedacht war. Im Januar 1968 war daher ein Kirchenbauverein gegründet worden, im Mai 1970 wurde der erste Spatenstich getan, im September 1973 konnte die neue Heilig-Geist-Kirche in Mühlried eingeweiht werden. – Schon immer hatten die Mühlrieder Kinder die Schule in Schrobenhausen besucht, die Bevölkerungszunahme erforderte auch hier zügiges Handeln. Der Gemeinderat hatte bereits im Jahr 1967 einen Beschluss hinsichtlich einer eigenen Schule gefasst, eine Schulreform überholte dieses Vorhaben. Im November 1971 wurde mit dem Bauvorhaben begonnen, im Juli 1973 konnte das neuerbaute Schulhaus als Grund- und Teilhauptschule eingeweiht werden.

 

1972: Mühlried erhält Zuwachs

Schon Ende der Sechzigerjahre warf die Gebietsreform ihre Schatten voraus. Die Landkreisgebietsreform und die Gemeindegebietsreform sollten größere Verwaltungseinheiten schaffen. Obwohl Mühlried längst die mit Abstand zweitgrößte Gemeinde war, wurde auch schon Anfang der Siebzigerjahre diskutiert, ob man sich der Stadt Schrobenhausen anschließen sollte. Zu diesem Zeitpunkt jedoch wurde das Vorhaben letztlich noch durch einstimmigen Beschluss des Gemeinderats abgelehnt. Im Gegenzug erhielt die Gemeinde Mühlried Zuwachs durch die benachbarte Gemeinde Edelshausen. Mühlrieds zählte im Jahr 1974 stolze 3.787 Einwohner, fast eine Verneunfachung der Einwohnerzahl von 1840.

 

Mühlried wird Stadtteil

Doch die Diskussionen um die Gemeindegebietsreform dauerten an, bereits einige Jahre später stand das Thema erneut auf der Tagesordnung. Diesmal konnten die Mühlrieder nicht mehr widerstehen, zumal auch finanzielle Anreize geschaffen wurden. Zum 1. Juli 1978 wurde die Gemeinde Mühlried ein Stadtteil von Schrobenhausen. – Mühlried ist seither weiter gewachsen, viele Gewerbebetriebe haben sich neu angesiedelt. Die eigene Kirchengemeinde, die Schule, einer der größten Schrobenhausener Sportvereine prägen das kulturelle Leben Mühlrieds und sorgen für kulturelle Identität. Mühlried hat sich so als Stadtteil seinen eigenständigen Charakter bewahrt.

 

Die früheren Ortsteile von Mühlried

Königslachen

Um 1280 zum ersten Mal als „Chunislach“ erwähnt. Der Ortsname leitet sich ab aus dem Wortstamm „lache“, der auf ein stehendes Gewässer hindeutet, und dem Personenname „Cuni“, der sich im 16. Jahrhundert Zu „König“ verändert. Königslachen besitzt das Kirchlein St. Bernard, das in der heutigen Form im 18. Jahrhundert errichtet wurde.

Ried

Wohl schon um 807 als „reode“ zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Der Ortsname deutet wie bei Mühlried auf einen mit Schilf oder Sumpfgras bewachsenen Grund. Die Ansiedlung besteht 1823 erst aus zwei Häusern. Durch Ried führte bis Mitte des 18. Jahrhunderts die alte Paartalhochstraße, die Augsburg und Regensburg verband.

Högenau

Namensgebend für die Ansiedlung ist der nahe Staatsforst Hagenau. Seit Ende des 11. Jahrhunderts nennt sich ein Adelsgeschlecht nach ihrem Familiensitz „von Hagenouvva“. Im 15. Jahrhundert gelangt die Högenau in den Besitz des Schrobenhausener Bürgermeisters Hans Götz, der noch vor seinem Tod die beiden Höfe dem Schrobenhausener Spital überschreibt. Die „Spitalbauern“ mussten Jahrhundert lang Abgaben ans Schrobenhausener Spital leisten.

Rinderhof

Wir vermuten Rinder hinter dem Ortsnamen, doch Forscher sehen als Namensgeber eine Person namens „Rindo“. Der Hof wird schon im 12. Jahrhundert urkundlich erwähnt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Hof von Georg Leinfelder gekauft.

Sandhof

Um 1270 zum ersten Mal erwähnt, der Ortsname deutet auf einen sandigen Untergrund hin.  Im Jahr 1823 besteht der Weiler noch drei Häusern, heute hat er zwei Wohngebäude.

Altenfurt

Schon um 1130 zum ersten Mal erwähnt. Der Ortsname wird mit „Siedlung bei der alten Furt“ gedeutet. Altenfurt war seit frühester Zeit wichtige Übergangsstelle über die Weilach. Der Hof mit dem Hausnamen „Zöllner“  war früher eine Zollstelle.

Weil

Ein um 1818 entstandenes Gut des Rentbeamten Pappenberger, frühere Benennung auch „Pappenberg-Weil“.


Dieser Beitrag erschien erstmals in der Festschrift „125 Jahre Freiwillige Feuerwehr Mühlried” 2001

 




Von der kleinen Stadt und ihrem großen Mann

Vor 35 Jahren: Kulturpolitische Betrachtungen aus dem Jahr 1987


Kultur in Schrobenhausen: Der nachfolgende, unverändert wiedergegebene Text entstand im Juli 1987 als durchaus subjektive Bestandsaufnahme des Schrobenhausener Kulturlebens und seiner Entwicklungsmöglichkeiten. Inklusive eines mehr oder weniger „prophetischen“ Blickes auf die damals künftige und heute zur Gegenwart gewordene Rezeption des Schrobenhausener Rathauses.


Vor allem sind es die Maler, die das kulturelle Selbstverständnis der Stadt Schrobenhausen prägen. Da ist natürlich an erster Stelle Franz von Lenbach, 1836 hier geboren und 1904 in München gestorben. Der einstmals weltberühmte Porträtist blieb bis heute der eine große Mann, den ein gnädiges Schicksal häufig auch den kleinen Städten schenkt, auf daß sie Halt an ihm finden, sich anlehnnen können auf der Suche nach Identität.

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Derlei Bedürfnis freilich kann höchst unterschiedlich befriedigt werden. Auch Franz von Lenbach blieb es nicht erspart, seinen Namen den eher profanen Dingen dieser Welt leihen zu müssen, vom Lenbach-Bock bis hin zum Lenbach-Schinken. Und das liebgewonnene Etikett „Lenbachstadt Schrobenhausen“ wird vielleicht ab und an etwas überstrapaziert. Daß das in aller Welt seiner komischen Seiten nicht entbehrende Verhältnis zwischen großem Mann und kleiner Stadt kein ehernes Naturgesetz zu sein braucht, bewies 1986 zum 150. Geburtstag des Malers eine Gedächtnisausstellung von solcher Qualität, daß sie den Feuilletonisten aller großen deutschen Zeitungen einer anerkennenden Rezension würdig schien. So hat sich Schrobenhausen um seinen „großen Sohn“ einmal wirklich verdient gemacht.

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Was nach Ansicht so mancher Leute nicht immer der Fall war. Denn justament das größte Vermächtnis Lenbachs, der prunkvolle, von ihm gestiftete und nach ihm benannte Saal im alten Rathaus fiel gemeinsam mit diesem im Jahre 1967 der Spitzhacke – oder realistischer gesprochen – den Abbruchbaggern zum Opfer. Seither ist es schwierig geworden, über Schrobenhausen zu schreiben. Soll man die Tat, 20 Jahre nach ihrer Vollführung, nun wie vielfach gewünscht endlich totschweigen? Oder soll man einstimmen in die mittlerweile schon fast modische Klage über den herben Verlust? Welch letzteres bei Besuchern der Stadt, in Wort und Bild entsprechend verbreitet, häufig eine gespannt-mitleidige Erwartungshaltung à la „Zeig mir deine Wunde!“ auslöst. Aber vielleicht gibt es da noch einen dritten Weg. Der könnte zu der dreisten Behauptung führen: In nicht allzu ferner Zeit wird die Kunstgeschichte das moderne Schrobenhausener Rathaus, so wie es dasteht, preisen als die einzige eigenständige und architektonisch ernstzunehmende Leistung Schrobenhausenes im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts! Mag diese Behauptung zu Zeiten der Hochkonjunktur eines neuen „Historismus“, in dessem Geiste die funktionslosen Erkerlein aus den Neubauten sprießen wie die kontaminierten Schwammerl im Walde, auch noch so ketzerisch anmuten! Wetten, daß die Zeit kommt …

Lenbachsaal im Alte Rathaus Schrobenhausen

Lenbachsaal im Alten Rathaus Schrobenhausen

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Und bis es soweit ist, muß man das alte Rathaus halt noch wie eine Reliquie beim Schrannenfest als Modell durch die Straßen fahren. Womit ein weiteres Stichwort gefallen ist. Der Schrobenhausener Verkehrsverein hat den Bürgern, die noch vor wenigen Jahren dem Zeitgeist huldigend muffig hinter ihren Fernsehern saßen, das Feiern wieder beigebracht. Zum Schrannenfest 15 000 Besucher an einem Sonntagnachmittag, wie erst vor wenigen Tagen wieder der Fall, zeigen, daß die Vereinzelung doch wieder der Pflege von Gemeinsamkeit weicht. Und das ist der Urgrund kulturellen Lebens.

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Zum Beispiel – um nur eines zu nennen – im Bereich der Musik: Seit Gründung der Städtischen Musikschule im Jahre 1973 wächst eine neue Generation von Kindern und Jugendlichen heran, für die Musik nicht mehr primär ein Konserven-Erlebnis, sondern aktive Gestaltungsleistung bedeutet. So ist zur erfreulichen Tradition gehobener geistlicher Musik ein Neubeginn auf dem „profanen Sektor“ hinzugekommen.

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Freilich, es gibt sie noch, jene vermeintlich Feinsinnigen, die mit ihrem Los hadern, daß ein ach so erbarmungsloses Schicksal sie nach Schrobenhausen verschlagen hat. (Warum, bitteschön, bleiben sie dann?) Die das rechte Verhältnis zu Produktionsbedingungen und Erlebnismöglichkeiten von Kultur in der Kleinstadt einfach nicht zu finden vermögen. Die ihrer gequälten Seele ausschließlich durch Kulturkonsum in den großen Metropolen Linderung verschaffen können. Oder – und da wird es dann schlimm – sich mit Sendungsbewußtsein anschicken, das Gesellschaftsstück „Jetzt spielen wir Kultur!“ zu inszenieren, ohne zu merken, wie es zur eigentlichen Provinzposse wird.

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Doch gerade auch aus solchen Spannungsfeldern heraus wird die Vitalität kleinstädtischer Kultur gespeist. Deren Chancen und Grenzen zu erkennen, ohne ständig an Türen zu drücken, auf denen „Ziehen!“ steht, macht in Schrobenhausen seit Jahren sichtbare Fortschritte.

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Wenn eingangs von Malern die Rede war: Besonders auswärtigen Beobachtern ist in letzter Zeit immer wieder aufgefallen, daß das kleine Schrobenhausen mehr Maler sein eigen nennt, als ihm der Statistik nach eigentlich zustünde. In der Tat erstaunt es, wenn in einem nur gut 15 000 Einwohner zählenden Städtchen bar vordergründiger landschaftlicher Attraktionen nicht weniger als sechs freischaffende Maler und Bildhauer sowie eine ganze Reihe weiterer Künstler leben und arbeiten. Mit Lenbach hat das übrigens gar nichts zu tun! Hier eine Pseudo-Kontinuität herbeizuzwingen, hieße Heimatgeschichtsschreibung als spießbürgerliche Selbstbeweihräucherung zu betreiben.

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Bleibt nur zu hoffen, daß man in Schrobenhausen mit derlei Talenten auch zu wuchern versteht. Denn die Mitglieder dieser „Künstlergemeinde“ sind mehrheitlich noch relativ jung. Sie entwickeln sich weiter. Und es wäre schade, wenn sie eines Tages feststellen müßten, daß die Mauern zu eng werden …

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Womit wir bei den Mauern wären: Die Stadtmauer, der Stadtwall mit seinen prächtigen Bäumen, die immer noch den außerordentlichen optischen Reiz des Schrobenhausener Ensembles bilden, sind in den letzten zehn Jahren mehr und mehr als das große Kapital erkannt worden, mit dem sorgsam umzugehen Früchte trägt. Und um dem „Außen hui – innen pfui“ einer immer autogerechter gewordenen Altstadt entgegenzuwirken, hat man nun Gottseidank mit einer Stadtsanierung begonnen, die noch beispielshaft werden könnte. Vorausgesetzt, die politischen Entscheidungsträger lassen sich vom Druck horizont- wie perspektiveloser Vertreter von Partikularinteressen nicht zur Gänze den Schneid abkaufen.

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So manches ist erreicht. So manches erhofft man sich zurecht. So manches ist aussichtslos. Alles in allem läßt sich damit ganz gut leben. Das klingt vielleicht verhalten-miesmacherisch zu Zeiten, wo Selbstdarstellungsorgien, mit denen man sich in die eigene Tasche zu lügen pflegt, die Regel geworden sind. es ist aber durchaus als Kompliment gemeint. Als Kompliment für ein Schrobenhausen, das manchmal weniger Provinz ist, als der provinzielle Geist seiner Kritiker zu begreifen vermag.